Alle Artikel mit dem Schlagwort: Unterhaltung

Liebeserklärung von Katja Oskamp: »Marzahn, mon amour«

»Heldinnen des Alltags« (91) Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an den oft belächelten Plattenbau-Kiez am östlichen Rand von Berlin, ein Buch über das Leben und Altern jenseits der Ringbahn; darüber, was unsere Füße über uns erzählen können – ein Buch, genauso lustig und tragisch und schräg wie das Leben. Erzählt wird von Katja Oskamp, einer Schriftstellerin, deren Erfolg und Elan mit Mitte Vierzig verebben – das Leben gerät ins Stocken, wird fad, die Enttäuschungen häufen sich und etwas Neues ist nicht mehr in Sicht. Der Mann ist schwer krank, die Kinder aus dem Haus, und was eine solide und banale Midlife-Crisis sein könnte, nimmt sie als Gelegenheit. Was von außen nach Scheitern aussieht, ist für Katja Oskamp ein neues Leben und Quelle der Inspiration: Sie wird Fußpflegerin in einem kleinen Studio in Berlin-Marzahn, ein Arbeiterkiez voller Rentner:innen aus der ehemaligen DDR.   »Vielleicht stammt aus jener Zeit die Einsicht, dass das Leben ein Verlustgeschäft ist.« (88) Hier kommen die Geschichten zu ihr, manchmal in Form von ritualisierten Gesprächen mit Stammkundinnen, die ihre Vergangenheiten mit sich …

Katharina Volckmer »Der Termin«

Ein Patientinnen-Monolog, der es in sich hat »Das ist jetzt vielleicht nicht der beste Moment, um davon anzufangen, Dr. Seligman, aber ich musste gerade daran denken, wie ich einmal geträumt habe, ich wäre Hitler.« (7) Schon der erste Satz dieses Debüts, das es auf die Hotlist 2021 geschafft hat, zielt mitten hinein ins Zentrum aus Tabu, Scham, Identität und Schuld einer Nation. »Der Termin« kommt stilistisch radikal als ein einziger Monolog daher. Der Redeschwall einer aus Deutschland ausgewanderten Patientin, die während einer Untenrum-Untersuchung ihrem englischen Arzt gegenüber alle Schutzwälle brechen lässt. Alle Scham und Ängste, der ganze Zorn, die Verunsicherung über ihren Körper und Geschlechtsidentität, intime Geschichten, Eskapaden und Fick-Abenteuer ergießen sich ungebremst über alle, die bereit sind, zuzuhören. Dabei legt die Ich-Erzählerin einen derben Witz an den Tag, sucht die Provokation geradezu und unterstreicht lakonisch mit einer klaren Bestimmtheit ihre gewonnenen Ãœberzeugungen bis hin zu einer gestärkten Selbstbestimmtheit. »Es war immer ausgeschlossen, dass wir mit einer derart miserablen Landesküche ein Reich für tausend Jahre würden halten können, es gibt einfach Grenzen, was man den …

Dahinplänkelnder Überlebenskampf: Yukio Mishima »Leben zu verkaufen«

Japanischer Thriller aus ironischer Distanz »Aber plötzlich war ihm der Gedanke an Selbstmord gekommen, so wie man auf die Idee kommt, ein Picknick zu machen, doch als er jetzt angestrengt nach einem Grund dafür suchte, fiel ihm nicht der geringste ein. Wahrscheinlich hatte er genau deswegen versucht, sich umzubringen.« (6) Hanio ist ein seltsamer Kerl. Mit seinen 27 Jahren hat er plötzlich keine Lust mehr zu Leben. Als ihn die Schlaftabletten dann aber lediglich ins Krankenhaus statt ins Jenseits befördern, wird er unfreiwillig in sein Leben zurückkatapultiert. Und er beschließt aus einer Laune heraus, etwas Verrücktes damit anzustellen. Er schaltet eine Anzeige, in der er sein Leben zum Verkauf anbietet. »Leben zu verkaufen. Verfügen Sie frei über mich. Ich bin männlich, 27 Jahre alt und kann Geheimnisse wahren. Keinerlei Unannehmlichkeiten.« (10) Und die Käufer kommen in Scharen. Alle wollen sie einen Spieler für knifflige Missionen, Bedingung: lebensgefährlich. Da Hanio dem Tod emotionslos gegenübersteht, ergreift er die Chance, Außergewöhnliches zu erleben. Er macht Bekanntschaft mit einer Ganovenbraut, einer Vampirin, einer mysteriösen Todeslexikon-Besitzerin und den Schlägertypen eines …

»Der Gesang der Flusskrebse« von Delia Owens

Wer im Marschland lebt, fristet ein hartes, gekrümmtes und geplagtes Leben. Die wilde und abgeschiedene Sumpflandschaft in North Carolina ist das Zuhause für Aussätzige und aus der Gesellschaft Gestoßene. In den 50ern lebt hier Kya mit ihrer Familie in einer kleinen abgeschiedenen und spärlich eingerichteten Hütte. Sie wächst inmitten unberührter Natur auf, doch ist ihre Kindheit alles andere als schön: Das Geld ist knapp, Arbeit gibt es nur wenig, Wutausbrüche und alkoholgetränkte Schläge des Vaters jedoch viel zu viel. Eines Tages flieht Kyas Mutter vor den Misshandlungen und der erdrückenden Perspektivlosigkeit. Bald verschwinden auch Kyas geliebter Bruder Jodie und ihre anderen Geschwister. Was bleibt, ist der gewalttätige Vater und die unbeantwortete Frage, warum niemand das kleine Mädchen mit sich nahm? Als kurz darauf sich auch der Vater von dannen macht, bleibt Kya mutterseelenallein im Haus im Sumpf zurück. Wie soll ein sechsjähriges Mädchen allein zurechtkommen? Nach all dieser schwerverdaubaren Tragik zeigen sich die Entschlossenheit, der Mut und die Liebe zur Natur, dieser jungen, starken Protagonistin. Kya lernt, sich allein zu versorgen – zu waschen, zu kochen, …

Candice Carty-Williams »Queenie«

Drama-Queen Vorweg sei angemerkt, dass ich auch mit »Bridget Jones« und »Sex and the City« nicht viel anfangen kann, mich aber die Themenschwere, die Preise und der überwältigende Kritikerstimmenchor angelockt haben. Und man schicke außerdem vorweg: Liebes Verlagswesen, warum müssen alle, ALLE, Bücher mit feministischen Themen eigentlich grundsätzlich in einer Farbskala von Bonbonrosa bis Pink aufgemacht werden? Coversehgewohnheiten hin oder her, diese Farbgenderei ist wirklich nicht erträglich…   Adichie meets »Bridget Jones«, die zu viel »Sex and the City« geschaut hat Die Autorin Candice Carty-Williams, der großartige Blurbs entgegensprudeln, greift selbst zu den Schlagworten »Chick Lit« und »Bridget Jones« für ihr Debüt. Ob sich das einlöst? Queenie ist um die Dreißig und arbeitet im Kulturressort einer Zeitungsredaktion in London, aber eigentlich lässt sie gerade alles ziemlich schleifen, dabei würde sie gern über politischere Sachen wie Black Lives Matter schreiben, was allerdings nicht gerade gefragt ist bei dem auflagenstarken Blatt. Seit der Trennung von Tom – eigentlich ist es nur eine »Pause«, Queenie wartet ungeduldig darauf, dass ihr weißer Boyfriend wieder zur Vernunft kommt – trifft …

Mercedes Spannagel »Das Palais muss brennen« – vom uralten Kampf
Gut gegen Nazi

Krieg den Palästen! Dieser schmale Band, Spannagels Debüt, ist eine kurzweilige, sehr unterhaltsame Erzählung, die man mit Freude in einem Rutsch schmökert. Die Cover-Schönheit steht außerdem auf der Shortlist des Österreichischen Debütpreises 2020. Mit bitterbösem Humor schießt diese Pointen-Kanone wild um sich und verschont dabei niemanden. Satirisch überhöht und mit einem guten, groovigen Sound legt die Wienerin eine dicht gestrickte Story vor, die in ihrem Spiel mit Klischees eingebettet in pamphletistische politische Statements vom Schlag der Kling’schen Känguru-Reihe ist. Die linke intellektualistische Brut dreht als Nachwuchs der rechtskonservativen morallosen Elite völlig frei. Ein riesiger, abgründiger Spaß! »Unsere Herzen waren dicke Kinder, die auf dünnem Boden sprangen. Alles bebte.« (79)   Party im Palais: Ein Mopsbaby sorgt für reichlich Wirbel Jurastudentin Luise besorgt sich einen Mops, er heißt Marx und ist eine Trotzreaktion auf den neunten Windhund der Frau Bundespräsidentin, ihrer rechtskonservativen Mutter. »Wie kann man als Kind dieser Mutter nicht dramatisch werden oder selbstmordgefährdet?« (33) Genau wie ihre Schwester Yara und umgeben von einem bunten Haufen Pseudo-Künstler*innen begehrt Luise gegen ihre Mutter als Stellvertreterin des …

Kathrin Weßling »Nix passiert«

Wer bin ich ohne dich? Alex wurde von Jenny verlassen. Was sich in der akuten Liebeskummer-Phase anfühlt, wie ein Kettensägenmassaker an seinem Herzen, ist einfach der Anfang einer neuen Lebensphase. Wer kennt es nicht? Man aalt sich in Selbstmitleid, verloddert, verheult, Trash-TV, Stalking auf Social Media und man kann sich einfach nicht vorstellen, dass das Leben weitergehen wird. Jemals wieder Freude? Jemals wieder lieben? Alles ausgeschlossen. Man selbst der einzige Single auf der Welt, ein Freak, das Leben nicht im Griff. Alles, was man will, ist, dass NIX PASSIERT. Weil in einem gefühlsmäßig schon der dritte Weltkrieg tobt. Die Welt soll pausieren, damit man genug Zeit zum Leiden hat. Bis das irgendwann unerträglich wird, »bis man endlich kapiert: Es ist vorbei. Es ist nicht nur vorbei, sondern es wird auch vorbei sein, Futur zwei für immer« (211) und man alle Sachen seiner*s Ex wegschmeißt und endlich mal wieder duscht. »Du hast mir das Herz nicht gebrochen, nein, das wäre dir ja zu wenig, das ist ja nicht doll genug, nicht krass genug, da muss die …

Betörend und unerhört: »Queen July« von Philipp Stadelmaier

Die älteste Geschichte der Welt Wir befinden uns in Paris und es ist unerträglich heiß. July rekelt sich Tag für Tag im kühlen Badewasser und kippt den weißen Burgunder mehr als das sie an ihm nippt. Zu ihren Füßen sitzt Aziza, eine Freundin, die den Liebeskummer kultiviert und in Scheherazade-Manier ihre Lebensgeschichte erzählt. Was sie erzählt, ist eigentlich nichts weiter als das Grundnarrativ schlechthin, a story of boy meets girl, oder nicht ganz, vielmehr ist Aziza hin- und hergerissen zwischen zwei Männern, zwei möglichen Leben. Es ist ein Bro-Talk unter modernen Frauen mit leicht erotischen Zügen – frech, frei heraus, mal abgeklärt, mal verletzlich – und doch kommen die großen Fragen des Wie-leben auf den Plan. Die beiden weisen einen afrikanisch-arabischen ethnischen Hintergrund auf und haben zahlreiche Erfahrungen mit Entwicklungshilfe, Migration, Integration, Kolonialismus, Rassismus und Terrorismus gemacht. Aziza, die Verwandtschaft in Dschibuti, Kamerun, Tel Aviv und Dakar hat, selbst aber in Paris großgeworden ist, hat nach ihrem Medizinstudium lange Zeit in einem Krankenhaus in Dschibuti gearbeitet. Dschibuti Stadt wurde zu ihrem Babel, zu ihrem Babylon, …

Anika Decker & Katja Riemann »Wir von der anderen Seite«

Als Rahel, selbstständige Drehbuchautorin, auf der Intensivstation erwacht, hat sich alles geändert – sie sieht aus wie Mister Burns von »Den Simpsons«, abgemagert, mit gelblicher Haut, gebeugt und schwach – doch zum Glück hat sie ihren Humor nicht verloren. Und trotzdem lässt sich dieses Erlebnis nicht einfach vergessen. Wie soll man weitermachen, wenn Körper und Geist nur langsam gesunden und das alte Leben erschreckend weit weg scheint? Kann eine Liebe dieser Belastung standhalten? Anika Decker ist erfolgreiche Drehbuchautorin, bekannt geworden ist sie gleich mit ihrem Drehbuchdebüt »Keinohrhasen«. Ihr erster Roman umkreist nun in autobiografischer Anlehnung das Schicksal der jungen Rahel, deren Nierenstein an Weihnachten zu einer Blutvergiftung mit anschließendem Mulitorganversagen führte. Der einzige medizinische Ausweg: künstliches Koma. Drei Monate wird sie im Krankenhaus bleiben müssen, so stark geschwächt, dass Klo- und Spaziergänge zu epochalen Anstrengungen werden. Doch auch in der anschließenden Reha und der Rückkehr nach Hause wird es nicht einfacher. »Wir von der anderen Seite« erzählt von ihrem Versuch ins alte Leben zurückzukehren. Anika Decker schreibt schreiend komisch und herzzerreißend traurig vom schweren Weg …

André Aciman »Fünf Lieben lang«

Der in Ägypten geborene Weltbürger André Aciman hat seit dem Welterfolg der großartig verfilmten und Oscar-prämierten Coming-of-Age-Geschichte »Call me by your name« eine riesige Fangemeinde. Sein neuer Roman »Fünf Lieben lang« ist eine Feier der Begierde. Lust und Leidenschaft, unabhängig von Alter oder geschlechtlicher Identität, die Unbeständigkeit und Illoyalität von Verlangen und die Rätselhaftigkeit des eigenen Ichs betrachtet Aciman hier episodisch und hält die Spannung der unerfüllten Sinnlichkeit für den Leser bis zum Schluss aufrecht. »Wie der Donner nach dem Blitz ist mein wahres Ich oft meilenweit entfernt. Bisweilen donnert es nicht einmal. Es blitzt, und dann ist es still. Wenn ich dich sehe, blitzt es, und dann ist es still.« (175) Jedoch führt der deutsche Buchtitel etwas in die Irre, da es sich weniger um einen Roman über fünf Liebesgeschichten im Leben des Protagonisten Paul handelt, sondern eher um fünf Leidenschaften, fünf Geschichten des Begehrens und Verzehrens. Diese erzählt Aciman als begabter Sensualist ohne dabei je einem machohaften Ton nachzugeben, sondern im Gegenteil über die Maßen zärtlich, sensibel und verunsichert. »Wir lieben nur einmal …