Literatur
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Jessica Andrews »Und jetzt bin ich hier«

»An den Rändern franse ich aus, langsam aber sicher.« (187)

Lucy will ihrer Herkunft, der Kleinstadt in Nordostengland, dem Alltag aus der Working Class, dem provinziellen Dialekt, den Eskapaden ihrer getrennten Eltern entkommen, sich endlich freistrampeln. Und wo ginge das besser als in der Kapitale, im brummenden, geschäftigen London. Voller Faszination und mit viel Hunger auf Dreck und Spaß und Drama stürzt sie sich hinein in das neue Leben – studiert Literatur, kellnert in einer Kneipe, tanzt die Nächte durch und geht auf im Strom der Hauptstädter.
Doch dann holt Lucy ihr altes Leben wieder ein und besonders ihr alkoholkranker Vater sorgt für einige Unruhe. Mehr und mehr fordert der Großstadtalltag seinen Tribut und als alles auf der Kippe steht und zu zerbrechen droht, ergreift Lucy die Chance und flüchtet sich in die Ruhe und Weite Irlands, in das alte Cottage ihres verstorbenen Großvaters.

»Ich hatte mir eine Zukunft mit Leinenbeuteln und Zimmerpflanzen ausgemalt. Ich glaubte, das sei das Leben, das ich mir wünschen sollte. Jede Nacht arbeitete ich in einer Bar und versuchte herauszufinden, wie ich es in diese Zukunft schaffen sollte.« (10)

»Mit unseren Körpern fängt alles an.« (7)

Andrews findet einen Sound, der überzeugt. Der einen mitreißt, so voll Energie und Hunger, mit Haut und Haar, vibrierend, klebrig. Sensorisch überbordend, herb und sehr körperlich, sie interessiert das Extreme: beißender Geruch – Rost, Metall, Salz und Schweiß, Torf, Rauch und Fisch –, die Fleischlichkeit und eine Schönheit, die schmerzt. Mutig verweigert sie sich den Klischees von Reizvollem und Lust, übergeht die transzendente Überhöhung und konzentriert sich stattdessen auf Natürlichkeit, auf Körper, wie sie eben sind. Sehr organisch verwebt die Autorin die verschiedenen Zeitebenen, zwischen denen sie springt, und versetzt sich sogar bis zurück in den Mutterleib.

»Es gab Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass London mir gehörte. Nach einer Party, oben auf dem Telegraph Hill im Tau liegend, über mir der rosarote Himmel. Auf dem Fahrrad, in einem dünnen Kleid, eine Hand am Lenker, die andere in der Luft, wie um nach unsichtbaren Fäden zu greifen. In einem dreckigen Lagerhaus tanzend, bis der schweiß wie Sirup zwischen den Brüsten tropft und die Freunde als verwischte Gestalten herumwirbeln.« (21)

 

London calling

»In dieser Stadt, die sich unaufhörlich erneuert, wusste ich immer weniger, wer ich wirklich sein wollte.« (21)

Sowohl in ihrer Glitter-und-Drogen-Phase in London als auch in ihrer Teenagerzeit wird Lucy als verunsicherte Protagonistin erzählt, als stark und schwach zugleich. Ein Umstand, der mich sehr für sie eingenommen hat, weil die Wahrheit immer zwischen beiden Extrema changiert. Lucy ist aufmüpfig und lebenshungrig, frech und schön, aber auch zurückhaltend, verschlossen, misstrauisch, überfordert. Als Teenie jagt sie der richtigen Mode und Musik hinterher, Abenteuern mit Jungs und Drogen und kommt dabei einer Essstörung gefährlich nahe. Immer wieder versucht sie sich einem unbekannten Ideal anzunähern, fühlt sich unzulänglich, lernt Selbsthass kennen. Ihr ganzes Leben lang wird sie immer wieder mit der Übergriffigkeit der Männer konfrontiert.

»Jungenhaft scheint am besten zu sein, weil das heißt, man bleibt von alldem verschont. Ich bin nicht jungenhaft. Ich will nicht, dass mein Körper Aufruhr verursacht. Ich will nicht, dass er als Erstes spricht. Die Leute gucken, aber sie hören nicht zu.« (163)

»Die Gegensätze liegen oft sehr nah beieinander.« (290)

Immer wieder springt die Erzählung zwischen den zwei drastisch gegenübergestellten Kontrastwelten, die sich in der Protagonistin annähern, weil sie beide zu ihr gehören. Auf der einen Seite Großstadt-Sumpf und auf der anderen Einsamkeit und Achtsamkeit an der irischen Provinzküste.

»Nachts liege ich im Gras im Garten und schaue in die Sterne, lasse meine Gedanken wandern, schneide sie nicht ab, schreibe sie nicht auf, sperre sie nicht an zu kleinen Orten ein.« (33)

Vieles lässt Lucy von sich in London zurück, als sie sich entschließt ein so ganz anderes, ruhigeres Leben in dem irischen Cottage mitten im irischen Nirgendwo zu führen. Ein solcher Lebensstilwandel bedeutet immer auch, dass man etwas von seinem alten Ich, etwas aus seinem alten Leben verliert, vielleicht auch Dinge, die man an sich mochte und über die man sich definiert hat. In der Abgeschiedenheit denkt Lucy über das Mosaik ihres Lebens nach.

Das war geprägt von einem unzuverlässigen, immer wieder abwesenden Vater, einem taubstummen, randalierenden Bruder und einer Mutter, die sich auf die falschen Männer einlässt und unter ihrer selbstaufgebürdeten Verantwortung zu zerbrechen droht. Die Trennung der Eltern, der neue Freund der Mutter, die Eskapaden des trinkenden Vaters – all das, lässt Lucy noch immer nicht los. Oft adressiert sie die Mutter als Du, ein Du von dem Lucy sich distanzieren will, sie will es anders machen.

Beide Männer in der Familie haben Mutter und Tochter in der Vergangenheit sehr beschlagnahmt und ihnen viel abverlangt, jetzt lechzt Lucy nach einem Befreiungsschlag, danach auch egoistisch und unvernünftig sein zu können, keine Verantwortung zu haben – diejenige für sich selbst lässt sich aber leider nicht abschütteln. Doch dann ist der Vater plötzlich länger als je zuvor verschwunden und ausgerechnet jetzt macht sich die Mutter von ihm los, da fällt alles umso schwerer auf Lucy zurück. Halb wahnsinnig wird sie auf der Suche nach ihrem Eskapaden-Papa, dem sie nie wirklich nahe sein konnte, der immer schon in seiner eigenen Welt gefangen war. Erst jetzt begreift Lucy die Vergangenheit als das belastende Gepäck, das sie niederdrückt – und dass jeder ist für sein eigenes Glück verantwortlich ist. Um zu gesunden muss sie sich von den Familienbürden losmachen, ohne mit ihnen zu brechen.

»Ich dachte, ich hätte mich zu etwas Neuem gemacht, aber von denen, die mich geformt haben, bleiben immer Spuren zurück.« (304f.)

 

»›Was ist zuerst da? Gedanken oder Worte?‹« (176)

Immer wieder spielt das Ringen um Sprache als das Ringen um Kontrolle eine wichtige Rolle in diesem Roman: Da ist die Oma, der wegen einer Krebserkrankung der Kehlkopf entfernt werden muss und der taube Bruder, der über Jahre auf Zeichensprache angewiesen ist.

»In unserer Kindheit blies meine Mutter eine rosarote Kaugummiblase um meinen Bruder und mich, in der wir in Sicherheit waren vor der harten Realität. Die Worte Alkoholiker und Depression habe ich kein einziges Mal von ihr gehört. Als Erwachsene finde ich es befreiend, Dinge zu benennen; sie wie lange scharfe Splitter aus meinem Körper herauszustoßen und zu Worten zu formen. Dingen einen Namen zu geben, verleiht ihnen Gestalt und Form, und dann kann man sie in die Hand nehmen und wegwerfen.« (52)

Mit diesem furchtlosen Blick auf sich und ihre Umwelt stößt Lucy auf elementare Fragen: Wer bin ich und wohin mit mir? Die Orte, an denen man lebt, prägen einen genau wie die Familie, aus der man kommt – wie findet man seinen Platz und woher weiß man, was man hinter sich lassen und womit man Frieden schließen muss?

Fazit

Jessica Andrews gelingt ein formal ausgereifter Text. In Mini-Kapitel bewegt man sich in starken Sprüngen durch Lucys Leben und Gedankenwelt, die Schlaglichter erhalten dabei in einigen Passagen einen episodischen, zum Teil lyrischen Charakter.

Formal sehr sicher weist der stark verwobene Häppchen-Roman, der sich zeitweise bewusst etwas sperrt, auf jeder Zeitebene einen individuellen Ton auf: Wenn aus der unbeschwerten Kindheit erzählt wird, in der sie oft Urlaub in Irland gemacht haben, aber auch hier schon an manchen Stellen die Düsternis in die Familie hereinbricht, klingt die Erzählung anders als während der aufmüpfigen Teenagerzeit, wo Konzerte und Jungs alles sind und von der sich wiederum die rasante, fast wahnhafte London-Zeit abhebt, und schließlich noch die vollkommen entschleunigte Irland-Phase, die von kleinteiligen und lebensumspannenden Beobachtungen durchzogen ist.

»Jede Dämmerung ist anders. Ich beginne daran zu zweifeln, dass es Endgültiges gibt.« (62)

Jessica Andrews schafft mit »Und jetzt bin ich hier« einen sinnlichen, intimen und intensiven Roman mit einer etwas überdrehten Protagonistin auf der Suche nach dem richtigen Leben und den passenden Entscheidungen in einer Welt voller Erwartungen und Versuchungen.

 

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»Und jetzt bin ich hier« von Jessica Andrews, aus dem Englischen übersetzt von Anke Caroline Burger, umfasst 333 Seiten, erschien am 04. April 2020 bei Hoffmann und Campe und kostet gebunden mit Schutzumschlag 22 €.

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