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Marie Darrieussecq »Unser Leben in den Wäldern«

»Das ist alles nicht gut. Überhaupt nicht gut.« (S. 7)

Die französische Autorin Marie Darrieussecq entwirft in »Unser Leben in den Wäldern« eine eindrucksvolle Zukunftsdystopie, auch wenn ihre Motive und Einfälle sehr genretypisch und nicht besonders innovativ sind, kann sie stilistisch mit einer düsteren Atmosphäre und bedrückender Dringlichkeit überzeugen.

Wir befinden uns in einer vielleicht gar nicht allzu fernen Zukunft, in der Roboter die meiste Arbeit übernehmen und dem Menschen existenziell Konkurrenz machen, in der Klone als Ersatzteillager im Dornröschenschlaf gehalten werden und es total normal ist, durch technische Implantate und smarte Vernetzungen ständig online zu sein. Mit diesen entscheidenden Schritten in Richtung Digitalisierung wird allerdings auch eine in der Drastik nie dagewesene, umfassende Überwachungspraxis ermöglicht und die Unterscheidung von Mensch und Maschine wird zunehmend schwieriger und letztendlich obsolet. Es ist eine Zukunft des Turbo-Kapitalismus, in der ohne Ausnahme alles nutzbar gemacht und ausgebeutet wird, in der die soziale Ungleichheit immer weiter wächst und Rückgang und Vergiftung der Natur bei gleichzeitigem Wuchern des Urbanen die Gesundheit alles Lebendigen bedroht. Das autoritäre politische System schreckt nach mehreren Attentatswellen nicht vor Eliminierungen von kritisch Denkenden zurück, die Manipulation im großen Stil und das Ruhigstellen der Bürger durch Zusätze im Trinkwasser stehen an der Tagesordnung.

»Wir konnten nichts dafür, wenn wir alle irgendwelche Dreckskrankheiten hatten, das lag an der Luftverschmutzung, an den Kohlenstoffen, die aus den rückständigen Ländern zu uns geblasen wurden, weil die mit Kohle heizten, an der Chemie in den Lebensmitteln, an den GVO praktisch überall. Davon wurde man krank. Ohne was dafür zu können. Aber dafür hatte man ja de Hälften.« (S. 56)

Die Hälften, das sind Klone, die sich allerdings nur Reiche leisten können, und auf die in allerlei medizinischen Fällen zurückgegriffen wird, um das Leben des Besitzers zu verlängern. Auch Marie, die Protagonistin des Romans, besitzt eine Hälfte, die sie Zimperliese getauft hat und zu der sie eine ungewöhnlich starke Gefühlsbindung empfindet.

Im Zentrum der Geschichte steht das langsame Begreifen Maries – und parallel mit ihr des Lesers – was die unerhörten Ausmaße der Einflussnahme der Überwachungsdiktatur und der systemischen Dienstbarmachung der Menschen angeht. Alles steuert auf die große Enthüllung am Ende zu, die nichts weniger als eine neue kopernikanische Wende unerhörten Ausmaßes ist. Marie richtet sich mit dieser Enthüllung an eine fiktive Leserschaft, in die sie all ihre Hoffnung setzt. Diese Erzählhaltung spielt mit fiktivem Wissen und Informations- und Erzähllücken.

»Damals bildeten wir uns ein, dass kein Mensch jemals die Zeit hätte, sich alles anzuhören, was jeden Tag in jedem Zimmer und jedem Raum der menschlichen Welt aufgezeichnet wurde, und ebenso wenig, all diese Bilder anzuschauen. Diese Bilder, sagten wir uns, sind für das Nachher da, wenn was Schlimmes passiert ist, um Opfer und Täter zu identifizieren. Da hatten wir nicht mit Auge und Gedächtnis der Roboter gerechnet, mit der unendlichen Zeit, über die Maschinen verfügen, und mit ihren unendlichen Abgleichkapazitäten. Lassen wir das. Ich werde Ihnen nicht von allem berichten, was danach passiert ist, wie wir alle reingelegt worden sind, das wissen Sie genauso gut wie ich.« (S. 21)

 

»Was möglich ist, dazu kommt es fatalerweise auch.« (S. 51)

»Ich stelle mir vor, dass der letzte Wald verschwunden sein wird, wenn der erste Menschenroboter fertiggestellt ist. Berührung der Ziellinie. Fünfzig Jahre. Das werde ich nicht erleben. Ich bin vorher kaputt. Ein Glück, dass ich keine Kinder habe.« (S. 12)

Marie ist eine ehemalige Psychologin, die angestoßen durch einen ihrer Patienten dem System gegenüber misstrauisch und kryptisch vor dessen Praxen gewarnt wurde. Dieser sonderbare Patient Zero ist beruflich ein Klicker: zuständig dafür, Robotern menschliche Assoziationen beizubringen und sie so empathisch zu machen – eine Arbeit, bei der stupide, repetitive, maschinenähnliche Vorgänge anfallen, um Maschinen menschlicher zu machen. Dieser Klicker ist einer der ersten, die organisiert verschwinden und sich für ein Leben und den Kampf im Untergrund entscheiden.

»Die Luft hier ist wunderbar. Sie riecht nach Grün. Sie riecht nach Saft. Das ist gut. Zwischen den Blättern lässt sich der Himmel erahnen, konfettiweise. Himmelspailletten. Es regnet blauen Himmel. Der blaue Himmel legt sich auf mich.« (S. 83)

Auch Marie schließt sich dieser geheimen Fluchtbewegung der Rebellen in die Offline-Welt der Wälder an, die einen natürlichen Schutz vor Drohnenüberwachung bieten. Die Rebellen folgen einem schon heute spürbaren Back-to-the-nature-Trend – zurück zum Natürlichen, zum Tierischen! Erst hausen die Untergetauchten in Zeltlagern, schließlich heben sie sich sogar Dachsbauten aus. Der schwierigste und erste Schritt zum Rebellenleben ist allerdings, offline zu gehen und so vom Radar der Machthaber zu verschwinden.

»Das vergisst man schnell: in welchem Maße jede unserer Bewegungen im Netz steht, festgehalten und kategorisiert usw. Von den Robotern gelesen. Archiviert, verglichen, einsortiert. Die banale Bewegung, seine Tür mit der Hand zu öffnen, siiiii, indem man sich identifiziert. Zu bezahlen, indem man einfach durch ein Tor mit Iris-Scanner geht (…). Zu telefonieren, indem man nur das Mikro im Ohr aktiviert. Das vergisst man alles. Wenn man verschwindet, sagte ich mir, kann man überhaupt nichts mehr machen. Man kann nicht mehr existieren. Man ist in einer Zwischenwelt verloren, sitzt zwischen zwei Lamellen der Zeit fest. Ich sagte mir, man muss aufhören, seinen Körper als Schnittstelle zu benutzen. Aber wie?« (S. 84)

Doch ganz so einfach lässt sich Revolution nicht machen, wie es die Geschichte schon dutzende Male gezeigt hat. Und auch bei dieser Roman-Revolte herrscht Uneinigkeit in der Gruppe, die mit ihren befreiten Klonen zusammenleben. Man kann sich nicht auf ein gemeinsames Ziel einigen, ebenso wenig auf eine Vorgehensweise. Ein besonders heikles Thema ist der Umgang mit den Hälften und deren sozialer Status, denn die Schar von Klonen ist ungebildet und unbedarft wie Kleinkinder und werden von den meisten als Eigentum betrachtet. Sollte man sie als Arbeitssklaven einsetzen, als Armee aufstellen? Darf man ihnen nach der Befreiung den eigenen Willen aufzwängen und sie dienstbar machen und so ihrer Freiheit wieder berauben – für die gute Sache? Uneinigkeit und Misstrauen breitet sich unter den Rebellen aus. Worauf soll das alles hinauslaufen: Flucht oder Schlacht?

»›Wir waren wenige und noch dazu uneinig.‹ Wir waren nur eine Handvoll, und wenn ich eine Handvoll sage, dann sehe ich eine geballte Faust, aus der sich einige dürre Körper zwischen den gnadenlosen Fingern herauszuwinden versuchen.« (S. 92)

Diese entworfene Romanzukunft speist sich deutlich spürbar aus unserer tatsächlichen Gegenwart und ihren aktuellen Phänomenen und Herausforderungen, was ein ungutes Gefühl erzeugt.

»Aber halten Sie mich bloß nicht für eine Nostalgikerin. Ich vermisse die Vergangenheit kein bisschen, schließlich führt sie zu unserer Gegenwart. Ich vermisse die Zukunft. Lassen wir das.« (S. 25)

Sprachlich ist die Dystopie nicht schön, aber interessant. Erzählt wird im Notizheft-Stil, denn Marie schreibt diese Geschichte sehr überstürzt im Rebellenlager nieder. Dabei ergeben sich pausenlos assoziative Sprünge in der anachronistischen Erzählung, Erinnerungen, Flash Backs, Einschübe und Brüche. Die Erzählerin benutzt eine stark verkürzte Sprache, elliptisch, umgangssprachlich und teilweise sogar in Form von Gleichungsketten, die an Programmiersprachen erinnern.

Zwar sind sowohl Geschichte als auch Plot und Figuren nicht unbedingt originell und sehr genretypisch, dennoch kann die Dystopie mit einer spürbar dichten Atmosphäre überzeugen und eine beeindruckende Sogkraft entwickeln, einen bedrohlichen, eindringlichen Rhythmus – Stimmung und Stil schwanken zwischen verzweifelt, resigniert, wütend, flapsig und bitter-schwarzem Humor.

»(…) weil ich das Gefühl habe, ich muss schnell machen. Ich habe wenig Zeit. Das spüre ich in den Knochen, den Muskeln. In dem Auge, das mir geblieben ist. Ich bin schlecht beieinander. Ich werde keine Zeit haben, das nochmal durchzulesen. Oder einen Plan zu machen. Es kommt, wie’s kommt.« (S. 7)

Diese eilige Berichterstattung in Form eines atemlosen Herunterschreibens, ohne zu korrigieren, das Springen von Gedanke zu Gedanke, das klaffende Lücken in der Erzählung offen lässt, beherrscht den Leseeindruck. Einem Gedankenstrom ähnlich, aber doch bemüht, eine Geschichte zu erzählen, denn diese Chronik der Rebellen, diese Enthüllung der Schlechtigkeit des Systems, setzt auf einen klaren Gebrauchswert: Marie richtet sich an eine implizierte, fiktive Leserschaft aus ihrer Zeit – aber gleichzeitig natürlich auch an eine reale Leserschaft, die die Dystopie als Warnung und Handlungsaufforderung begreifen soll – und setzt auf deren Aktion. Sie mahnt und klärt auf, dieser sehr eindringliche Apell beinhaltet ihre Hoffnung in die nächste Generation. Und nicht nur die Aufzeichnungen an sich bekommen auf einer Metaebene eine neue Bedeutung, Sprache an sich wird als urmenschliche Waffe gegen die Maschinen erkannt, denn Sprachbilder, Doppeldeutigkeiten, Humor, Ironie, bizarre Satzkonstruktionen, einfach gesagt Komplexität kann von den Robotern noch nicht verstanden werden.

»Angeblich kann man mit Metaphern die Roboter buggen. Er sagte auch, wenn man einen Roboter verwirren will, muss man übermäßig viele doppelte Verneinungen benutzen.« (S. 32)

 

Fazit: »›Da sieht man, wo uns der Fortschritt hingebracht hat.‹« (S. 90)

»Unser Leben in den Wäldern« ist eine zwar wenig innovative, eher genretypische Dystopie, überzeugt aber stilistisch. Atmosphärisch bedrückend, mit Tempo und Charme erreicht dieser fiktive Nachlass, dieser drängende Apell die Gefühle seiner LeserInnen. Darrieussecq erschafft eine eindrückliche Warnung, die sich aus gegenwärtigen Symptomen und Phänomenen speist und uns auffordert, hinzugucken und kritisch zu bleiben.

»Man muss eine neue Seite aufschlagen, heißt es immer. Diesen Satz hört man oft, sogar im Wald. Unterm Strich wollen einige also die Flinte ins Korn werfen. Aber ich hätte gern, dass, bevor wir diese neue Seite aufschlagen, erst einmal die alte Seite zu Ende gelesen wird.« (S. 108)

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»Unser Leben in den Wäldern« von Marie Darrieussecq, aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert, umfasst 110 Seiten, erschien im Februar 2019 beim Secession Verlag und kostet gebunden 18.00 €

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