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Überraschend cool: Hilmar Klute »Was dann nachher so schön fliegt«

Wer hätte das gedacht? Das literarische Debut des SZ-Redakteurs Hilmar Klute (Streiflicht) ist ein unerwarteter Volltreffer: klug, witzig, frech, jugendlich! Kalter Krieg und das geteilte Deutschland bilden den historischen Hintergrund und Zeitcouleur für diesen Roman.

»Das waren die Männer, die diese Republik am Laufen hielten. Kalter Krieg, kalte Schnauze, kalter Kaffee.« (S. 31)

Bochum 1986: Volker Winterberg ist zwanzig und macht gerade seinen Zivildienst in einem Altenheim, doch eigentlich träumt er davon, vom Schreiben leben zu können, vielleicht sogar eines Tages einer der Großen zu werden – und schließlich macht der junge Möchtegern-Lyriker ernst.

»Ich wollte es so machen wie die ganz Großen, für jeden Vers dreißig Fassungen schreiben und diese noch mit Querverweisen, französischen Flüchen und fünf Alternativwörtern versehen. Ich wollte ein richtiger Schwerstarbeiter der Literatur werden, so wie Peter Rühmkorf, der unter der Last seiner Verse fast zusammenbrach. Ja, Rühmkorf hatte recht: Was dann nachher so schön fliegt, wie lange ist darauf rumgebrütet worden! (S. 12)

Während seines Zivis auf der Demenzstation prallt der junge, hoffnungsvolle und lebenshungrige Volker auf das sinnentleerte Siechtum dieser Institution, hier kommt der poetische Pazifist mit den großen und existenziellen Fragen des Lebens in Berührung, mit Wahnsinn, Entwürdigung und Lebensmüdigkeit. Gerade in seiner kraftvollen und von Idealen getriebenen Suchbewegung nach dem richtigen, intensiven Leben, erinnert Volker an den Helden aus Bov Bjergs »Auerhaus«.

»Vielleicht musste man so, exakt so leben! Mit durchgedrücktem Gaspedal, durchgedrücktem Zigarettenanzünder und immer eine Filterlose zwischen den Lippen, weil man weiß, dass der Tod eher an den Durchschnittlichen interessiert ist, die ohne großes Gezeter mit ihm kommen.« (S. 46)

Immer wieder verfällt der Protagonist in Eichendorff ‘scher Taugenichts-Manier seinen Tagträumereien, malt sich ein Leben in literarischen Kreisen aus und imaginiert Treffen mit der Gruppe 47.

»›Hab ich dir eigentlich schon von meinem glorreichen Paris-Abenteuer erzählt?‹« (S. 118)

Volker befolgt den Rat von Dichter Peter Rühmkorf, Abenteuer im Ausland zu erleben, um etwas zu erzählen zu haben, und begibt sich auf einen Anhalterausflug nach Paris, der allerdings schrecklich missglückt und Volker eine Nacht in einer feuchten, dunklen Gasse beschert – aber auch ein grandioses neues Gedicht, das seine Eintrittskarte zu einem mehrtägigen Nachwuchsschriftsteller-Wettbewerb in West-Berlin wird. Hier lernt er den großspurigen Dichterkollegen Thomas und die schöne und direkte Taxifahrerin Katja kennen. Es folgt eine ganze Reihe von Missgeschicken, Blamagen, Enttäuschungen, Entgleisungen, Liebeswirren, durchwachten Nächten – trinkend, rauchend und schreibend in Kneipen -, schrägen Typen, Mentoren und blasierten Literaturbetrieblern.

Dann spitzt sich auch die Arbeit im Altenheim unangenehm zu, Volker bekommt einen Zivi-Mitstreiter, der dem Wahnsinn gefährlich nahe kommt und auch seine zweite Reise nach Berlin bringt nur böses Erwachen, Ãœbersättigung und Abschiede mit sich. Als Volkers Bewerbung für ein Künstlerdorf in Niedersachsen abgelehnt wird und er alle seine Notizen und Gedichte verbrennt, so wie Heiner Müller es ihm riet, kommt er seinem Point Zero immer näher…

»Der Schriftsteller ist viel stärker als die Wirklichkeit. Er ist der Einzige, der sie gegen sich selbst verwenden kann.«‹ (S. 278)

 

Einschätzung

Worauf steuert das hinaus? Was soll ich mit dem Geplänkel, den keinen Szenen, den mehr oder weniger unbedeutenden Schilderungen von Peinlichkeitsmomenten anfangen? Diese Fragen klopfen anfangs noch ab und zu an, doch dann vergisst man sie ziemlich schnell wieder, denn Klute schafft es, einen mit seiner grandiosen Sprache, einem glänzenden, Funken sprühenden Schreibstil bei Laune zu halten und in kleine Beobachtungen eine Menge hineinzulegen. So breitet er wie beiläufig ein beispielloses Panorama der literarischen Landschaft der achtziger Jahre aus, das man so lebendig und amüsant noch nirgendwo gelesen hat. Volker verehrt Peter Rühmkorf, Nicolas Born, Walter Mehring, Ernst Meister, Paul Celan, Heinrich Böll und die meisten Mitglieder der Gruppe 47. Er führt den Leser mit Leidenschaft an einige ihrer Werke und weckt in einem die drängende Lust, so viel wie möglich von diesen Nachkriegsautoren nachzulesen. Augenzwinkernd wird immer wieder Brecht zum Maß der Dinge erhoben und auf der anderen Seite entspinnt sich eine scherzhafte Polemik gegen Erich Fried und Walter Jens, sogar Kleist wird hier nicht mit Samthandschuhen angefasst und von seinem Thron gestoßen, denn Volker hat eine klare Meinung und an der ist nicht zu rütteln. Doch am Ende seiner Reise muss sich der Nachwuchsliterat eingestehen, dass es DEN guten Geschmack und DIE Literatur vielleicht gar nicht gibt. Aber wer besitzt die Deutungshoheit? Und was sind die Bedingungen von Erfolg und Niederlage? Die richtige Balance zwischen Selbstgefälligkeit und Demut, Lässigkeit und Relevanz muss immer wieder neu verhandelt und justiert werden.

»Ohne Gewährsleute hast du keine Chance, ohne die schützende Hand über dir bist du nichts weiter als irgendein Typ, der glaubt, schreiben zu müssen, (…).« (S. 71)

Klute behandelt virtuos die alten, nicht zu klärenden Fragen des größten zivilisatorischen Kampfes: dem Schreiben. Was ist (gute) Literatur? Warum schreiben bzw. lesen wir? Wie sehr muss ein Text aus dem eigenen Leben gegriffen sein? Wie reich muss man gelebt haben, bis man etwas zu erzählen hat? Wie viel Schreiben verträgt das Leben? Was macht einen Dichter zu einem solchen? Geht es um magische Inspiration oder harte Arbeit? Wie Rühmkorf meint: Was dann nachher so schön fliegt, das sind Gedichte, auf denen man lange gebrütet hat…

»Andererseits hatte ich mir ja auch vorgenommen, außergewöhnliche Dinge zu erleben. (…) Natürlich musste ich die Conditio humana in all ihren Spielarten kennenlernen; wer die Arbeit des Todes nicht versteht, kann keine Gedichte über die Welt schreiben.« (S. 150f.)

 

»Das alles sah nicht so aus, als würde hier gleich ein neues Kapitel deutscher Literaturgeschichte geschrieben werden.« (S. 56)

Den ganzen Roman über eifert Volker seiner Vorstellung eines literarischen Lebens nach, doch immer wieder wird er gezwungen, sein romantisiertes, ja glorifiziertes Bild eines Literaten mit der Wirklichkeit abzugleichen, denn die Schriftsteller, auf die Volker trifft, sehen enttäuschender Weise mehr nach Schalterbeamten oder Versicherungsvertretern aus als nach draufgängerischen, genialen Lebemännern.

 

»Das Leben sollte bitte leicht bleiben, so lautete die Abmachung dieses Jahrzehnts. Die großen Leidenschaften mussten handhabbar sein, Dramen und Liebeselend gehörten in die Tagebücher der Pubertätsjahre, das Herz lebte aus dem Koffer.« (S. 237)

Der Wannabe-Jungpoet und Grünschnabel Volker fällt auf erfrischende Weise aus vielen Mustern und Zeitgeist-Klischees, als folgte er einer eigenen Poetologie des Nicht-Reinpassens, der liebenswürdige Loser schwankt zwischen unsicherer Verwirrnis und Selbstüberzeugtheit.

 

»Was konnte mir eigentlich noch passieren angesichts der fabelhaften Worte, die ich in meiner Jackentasche trug? Ich hatte die ganze Welt in meiner Tasche und ich hatte die Stadt Paris unter meinen Schuhsohlen.« (S. 49)

In gewisser Weise lebt Volker Literatur. Er ist ungemein belesen, trägt seine Lieblingsverse mit sich, feiert, ja verlebendigt sie, indem er sie auswendig lernt, begeistert sich in hohem Maße für einzelne Zeilen, lässt sich berühren und beeinflussen und findet vor allem Worte für Worte, denn er hat ein ausgeprägtes Talent dafür, Literatur zu kommentieren.

»›Wir können die Welt selbstverständlich verändern mit unseren Worten. Wenn ein Gedicht an der Macht rüttelt, dann spüren die Mächtigen zumindest das Rütteln. Ob es sie daran hindert, weiter Verbrechen zu begehen und … ja, ungerecht zu sein oder so, das steht ja auf einem anderen Blatt. Ich finde Rimbauds Gedicht Trunkenes Schiff ist eine so mächtige Waffe gegen die Dummheit und Gutgläubigkeit der Menschen, dass jede Pershing- und SS-20-Rakete dagegen wie ein Chinaböller wirkt.‹« (S. 204)

Und so beglückt Hilmar Klute uns mit unzähligen Sätzen, die man immer wieder lesen will. Er entwickelt eine eigentümliche Sprache, Vergleiche und Bilder, schreibt atmosphärisch dicht und schafft ein verblüffendes Leseerlebnis, ein sprachliches Juwel. Absolut traumwandlerisch sicher wird hier erzählt, mit Leichtigkeit, Schönheit und Lässigkeit, außerdem unverschämt amüsant und mit einem Sound, der authentisch jugendlich-frisch klingt.

 

Wir wischen hier der Generation, die Auschwitz möglich gemacht hat, den Hintern ab

Klutes größtes Verdienst ist es aber, den Irrsinn auf einer Demenzstation und den Wahnsinn des Literaturbetriebs und des dandyhaften Bohémelebens engzuführen. Mit dieser Parallelisierung wird das Kulturschaffen liebevoll ad absurdum geführt. »Er sagte das keineswegs ironisch« wird zum Running Gag – ein augenzwinkernder Blick auf eine lächerliche, spießige, sich zu ernst nehmende Gruppe von Snobs.

»Es war fabelhaft, wie das Hirn mit Fiktion und Geschichte Katz und Maus spielte; wenn man alt und verrückt war, schien das Leben zu einer großen fantastischen Veranstaltung zu werden.« (S. 120) »Ich bettachtete Herrn Feist und begann mich in die Idee der Verblödung zu verlieben. Wenn sich die Argumente selbst genügen und keinen Abgleich mit den Argumenten der anderen benötigten, hatte man sich dann nicht ein Königreich zurückerobert?« (S. 126f.)

Er schreibt erschreckend, sehr eindrücklich und tiefsinnig über das Altern und das Heim als »diesem traurigsten aller Wartesäle« (S. 93). Volker muss die Pflege als den Knochenjob erkennen, der er ist, und während er existenzielle Begegnungen und makabre Erkenntnisse sammelt, bleibt einem das Lachen im Hals stecken, gefolgt von einem grausigen Schauer.

»Sie war ein Kind, aber kein unschuldiges Kind, das staunend in die Welt schaute; sie war ein Greisenkind, das süßlich lachend ins Leere glotzte, in die schreckliche, höhnische Leere, die dort entsteht, wo der Verstand das Feld geräumt hat.« (S. 54)

In »Was dann nachher so schön fliegt« entspinnt sich ein geografisches Spannungsfeld zwischen dem Glanz und Elend West-Berlins, der Nüchternheit und schlichten Mühsalsarbeit des Ruhrgebiets und der Leichtigkeit und Spontanität funkelnder Lebensmomente in Paris und lässt dabei die Zeit plastisch wiederaufleben.

Fazit

Hilmar Klute liefert eine absolute und unerhörte Überraschung. Unglaublich cool erzählt er von seinem liebenswürdigen simplizistischen Held Volker und dessen großen Traum vom Schreiben. Es entspinnt sich ein beeindruckendes Panorama der literarischen Landschaft der 1980er Jahre und eine augenzwinkernde Abrechnung mit dem gesamten Literaturbetrieb, indem er mit dem Wahnsinn auf einer Demenzstation verglichen wird. Klute streut poetische Bilder, wunderschöne Zitate, Philologen-Witze und beschwört sehr überzeugend Zeitgeist und -kolorit.
»Was dann nachher so schön fliegt« ist ein kurzweiliger Roman, sprachlich überaus gelungen, witzig, poetisch und mit einer deutlichen Vorliebe für das Semikolon.

Dieser Roman macht einfach Spaß! Uneingeschränkte Leseempfehlung!

 

»Was dann nachher so schön fliegt« von Hilmar Klute umfasst 368 Seiten, erscheint am 16.08.2018 bei Galiani Berlin und kostet im Hardcover 22,00 €.

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http://www.galiani.de/buch/was-dann-nachher-so-schoen-fliegt/978-3-86971-178-2/

»Wie kehrt man zurück von einem solchen Abenteuer? Wie klein darf man sich machen, nachdem man ein paar Tage lang größer gewesen war, als einem zusteht?« (S. 307)

 

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