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»Ganz und garrr missraten« – Literaturkritik heute

Freunde der Literatur! Warum werden wir uns häufig nicht einig, wenn es um Bücher geht? Warum reißen uns einige Texte mit und andere berühren uns nicht? Und warum sieht der nächste das vielleicht schon wieder ganz anders? Es gibt das richtige Lesen und ein allgemeingültiges Urteil nicht, aber es gibt gute Gründe und überzeugende Argumente für bestimmte Lektüren.

Warum Literaturkritik? Warum (kein) Wettbewerb?

Weil wir ins Gespräch kommen müssen, über Bücher, brisante Themen und unsere Zeit.

Die Literaturkritik kann helfen, sich auf dem Buchmarkt mit seinen rund 15.000 belletristischen Neuerscheinungen jährlich allein in Deutschland zu orientieren. Sie kann unseren Blick auf zu Unrecht Übersehenes lenken, Entdeckungen teilen, den Aufmerksamkeitsfokus der großen Medienhäuser korrigieren. Aber vor allem kann gute Literaturkritik die Lektüre auf eine höhere Ebene bringen, helfen, einen Text neu zu erschließen und besser zu verstehen.

Und ganz nebenbei macht es einfach unverschämt viel Spaß, gemeinsam über gute Bücher zu diskutieren!

Literaturkritik ist sinnvoll und wertvoll – auch oder gerade dann, wenn sie nicht von Berufskritikern geübt wird – in Räumen außerhalb des echolosen Feuilletons.

© Ludwig Lohmann

Etablierte Formate in Feuilletons oder Fernsehshows wie das Literarische Quartett, der Züricher Buchclub oder das Lesenswert-Quartett kränkeln an verschiedenen Stellen: an der Hektik, die sich aus einer sündhaft teuren und unbedingt einzuhaltenden Sendezeit ergibt, dem Drang zur Selbstdarstellung, einem akademisierten, bornierten und voraussetzungsreichen Sprachgestus, dem Wettstreit-Charakter, obwohl es keine Gewinner oder Verlierer zu küren gilt, keine Daumen, Sterne oder Skalen bedient werden müssten. Es sollte einfach darum gehen, gute Argumente auszutauschen und sich über die Grundlagen von Lektüren und Geschmacksurteilen zu verständigen. Die diskutierenden Kritiker sollten aufeinander eingehen und sich nicht gegenseitig übertrumpfen wollen, sie sollten miteinander und nicht gegeneinander sprechen, die Bücher in den Fokus rücken. Das heißt nicht, dass diese Formate nichts taugen, das heißt aber, dass es vielleicht auch anders geht und dass anders vielleicht sogar besser ist.

 

© Ludwig Lohmann

»ocelot2 – Die Diskussion«

Das haben sich auch Maria-Christina Piwowarski, die gelernte Buchhändlerin leitet seit 2015 das ocelot, und Ludwig Lohmann gedacht, der ihr als Buchhändler und Literaturveranstalter zur Seite steht. Die beiden wollen mit dem neuen Format »ocelot2« Literaturkritik neu denken.

»Die aktuellen Diskussionsrunden im Fernsehen leiden unserem Verständnis von Literaturkritik nach am gecastet wirkenden Rollenspielcharakter, am scheinbar allmächtigen Zeitdruck und an der Überzeugung, dass man Lektüre mit einer schlichten Bewertung in richtig und falsch unterteilen kann. Dabei ist gerade die anspruchsvolle Diskussion unter verschiedenen LeserInnen ein vielversprechendes Medium, um den Text im Wortsinn in den Fokus zu rücken, Bücher über die Sendung hinaus ins Gespräch zu bringen, kritisch zu lesen und zu hinterfragen, argumentativ sauber zu arbeiten.«

»ocelot2« möchte dem Buch und nicht Kritikerpersönlichkeiten die Bühne überlassen und die eigene Literaturbegeisterung verbreiten. Allen Beteiligten soll die Diskussion über Literatur Freude bereiten. Die Idee ist die Debatte über Neuerscheinungen wieder dorthin zu holen, wo sie ohnehin jeden Tag leidenschaftlich geführt wird, und zwar auf die dem Buchhandel eigene Art, wo weder akademisch noch klassisch feuilletonistisch über Bücher gesprochen wird. Piwowarski und Lohmann ist es ein Anliegen, dass die Diskussion auf Augenhöhe geführt wird und niederschwellig, für das Publikum nahbar bleibt.

»Wir möchten den zuhörenden Menschen Alternativen zeigen, kritisch auf belletristische Texte einzugehen: Weniger elaboriert, als es im Feuilleton passiert, weniger narzisstisch, als es teilweise im Fernsehen geschieht. Wir sind überzeugt davon, dass den Texten selbst die Bühne gehört.«

Auch was die Auswahl der zu besprechenden Bücher und der sprechenden Gäste angeht, möchten die beiden sich von der Literaturkritik der großen Medien abheben. So achten sie auf einen Frauenanteil, der mindestens bei fünfzig Prozent liegen sollte, und auf eine ausgewogene Mischung, die auch kleinere, unabhängige Verlage und unterrepräsentierte Gattungen ins Licht rücken soll.

 

»Vor allem wollen wir zeigen, wie Literaturkritik auch anders funktionieren kann. Das gute, oft auch sehr kontroverse Gespräch über Gelesenes ist unser täglich Brot.«

Mit hohem Anspruch und dem lebendigen Glauben an die Wirkmächtigkeit und Relevanz von Texten laden Maria-Christina Piwowarski und Ludwig Lohmann von der Buchhandlung ocelot, zweimal jährlich zwei Gäste aus der Buchbranche zu sich in den Laden ein, die eine ähnliche Einstellung zur Literaturkritik vertreten und gemeinsam mit ihnen über vier Neuerscheinungen diskutieren möchten.

»Wenn es nach uns geht, sollen Bücher bitte Stadtgespräch sein.«

Die vier Bücher, über die in der Premierenveranstaltung gesprochen wird © Ludwig Lohmann

Literaturkritik soll im ocelot, weder staubtrocken noch selbstdarstellerisch sein, ohne Punkte-Wertung und auch nicht als Verkaufsveranstaltung, dafür ganz nah an euch dran auf Augenhöhe! Im Quadrat. Um das Reden über Bücher und die Freude an ihnen zu potenzieren.

Diskutiert werden vier Neuerscheinungen. In der Premierenveranstaltung am 15.11.2018 sind das Nino Haratischwili »Die Katze und der General«, Paul Beatty »Der Verräter«, Annie Ernaux »Erinnerung eines Mädchens« und Natasha Stagg »Erhebungen«.

 

 

Behind the scenes. Oder: Was habe ich mit alldem zu tun?

© Ludwig Lohmann

»ocelot2« ist zum Teil auch ein studentisches Projekt. In der Kooperation mit meinem Master-Studiengang der angewandten Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin steckte die Möglichkeit für interessierte Studierende, Teil des Planungsteams bei ocelot, zu werden. Neben mir sind das noch zwei Kommilitoninnen, Katharina Korbach und Anja Riedel, die schon recht früh bei der Entwicklung des Formats involviert waren. Unsere Meinung, unsere Erfahrung, unser Input war stets gefragt, eine gute Gelegenheit zum Mitmachen, Ausprobieren und Dazulernen. Für uns bedeutete das auch, einen Einblick in die vielfältige Arbeit einer Buchhandlung zu erhalten, an einer umfangreichen Marketing-Kampagne mitzuwirken und Aktualität und Nutzen von Literaturkritik theoretisch und praktisch zu verhandeln.

»Da die Studierenden fast seit Beginn des Projekts bei uns sind, konnten sie wichtige Impulse setzen und wir sind auf ihre Beobachtungen und ihr abschließendes Fazit sehr gespannt. Zudem ergänzen sie unseren Blick, der sehr von der buchhandelnden Basis kommt, um wertvolle Anstöße aus ihrer Studienerfahrung.«

Die Zusammenarbeit ist für beide Seiten lehrreich. Es gibt in der Buchbranche wenig vergleichbare Konzepte, die tatsächlich so „angewandt“ sind und gleichzeitig so viele Vergleiche erlauben. Das ist für alle ein Gewinn!

»Wir sehen das literarische Leben der Gegenwart nicht als kontemplative Isolation an, sondern als ständigen Austausch in einem Netzwerk geistig offener Menschen. Bücher entstehen nicht aus dem Nichts, sondern werden von Menschen geschrieben, verlegt, verkauft, vermarktet – und gelesen.«

 

Die Gäste

Die beiden ersten Gäste in der Premierensendung von »ocelot2« am 15.11.2018 sind Alexander Weidel, Lektor beim Secession Verlag für Literatur, und Andrea Schmidt vom Verlagshaus Berlin. Warum sie bei dem neuen Literaturkritik-Format von ocelot, mitmachen und was ihnen persönlich am Herzen liegt, wenn es um Literatur geht, haben mir die beiden verraten.

© Lena Stöneberg

Lesen ist für Alexander Weidel ein absolut essentielles Empathie-Training, ohne das wir verloren wären – dagegen seien Genre, Inhalt, Anspruch und dergleichen nebensächlich –, deshalb widmet er sein ganzes Schaffen den Büchern. Bei neuen Stoffen kommt es ihm in erster Linie auf den Schreibstil an. Wenn ein Text formal überzeugen kann, sei das Wesentliche bereits geschafft. Er selbst lese fast schon neurotisch jeden Abend im Bett, um den Tag abschließen zu können und runterzukommen. Das Buch, was er mit Abstand am häufigsten gelesen hat, verrät Weidel, ist »Die unendliche Geschichte« von Michael Ende – ja eigentlich sei es mal wieder an der Zeit diesen Klassiker aus dem Regal zu nehmen.

Für Leser ist es nicht einfach, sich in der Masse an Neuerscheinungen zu orientieren, leider komme den meisten Titeln dabei viel zu wenig Aufmerksamkeit zu. Das ändere auch so etwas wie der Deutsche Buchpreis nicht, der ohnehin nicht das Beste oder wenigstens die Bandbreite des deutschen Literaturbetriebs abbilden könne, meint der Lektor.

© Lena Stöneberg

An der Literaturkritik findet Weidel in erster Linie spannend, dass Geschmacksurteile und Wertungen so aufschlussreich sind – nicht nur, was den beurteilten Gegenstand angeht, sie sagen auch vieles über denjenigen aus, der bewertet. Die von ocelot, neu gedachte Idee der Literaturkritik-Sendung gefällt ihm sehr – »Mit den beiden würde ich alles machen«, gibt er schmunzelnd zu –: Interessant an »ocelot2«, im Gegensatz zum Literarischen Quartett oder ähnlichen Formaten, ist, dass hier keine beruflichen Literaturkritiker diskutieren werden, sondern Buchhändler und Verlagsleute, was einmalig ist, denn die werden zwangsläufig eine andere Perspektive einnehmen und anders auf Texte schauen, so Weidel. Darauf sei er am meisten gespannt: wie man die unterschiedlichen Lesarten dann zusammenbringen kann.

 

Andrea Schmidt, der zweite Gast bei der Premiere von »ocelot2«, ist Lektorin und Typografin beim Verlagshaus Berlin, das sich auf das Publizieren von zeitgenössischer Lyrik, Illustrationen und Essays spezialisiert hat. Ihr Programm fällt durch seine hochwertige Gestaltung und die deutlichen Positionen auf, die in den Texten Ausdruck finden.

Schmidt hat aus der Verärgerung heraus über so viele nicht gut und lesefreundlich gestaltete Bücher, bei denen die Form den Inhalt versperrt, erst als Grafikdesignerin gearbeitet und dann konsequenterweise gleich mit zwei Kollegen zusammen einen eigenen Verlag gegründet. Ihre Texte sollen klare Positionen und Inhalte vertreten, das ist ihnen bei neuen Titeln wichtiger als Formfragen.

© Anja Riedel

Für die Typografin und Lektorin ist morgens die beste Zeit zum Lesen und das Lesen der beste Einstieg in den Tag. Bücher bedeuten für sie, in andere Geschichten einzutauchen, Neues kennenzulernen, sich selbst zu reflektieren und den eigenen Alltag zu relativieren. Ein Leben ohne Lesen, das für sie kurzgesagt Lernen bedeutet, ist für Andrea Schmidt nicht vorstellbar. Einen aktuellen Geschenk- und Lesetipp hat Schmidt auch in Petto: »Wie wir begehren« von der zeitgenössischen Philosophin Carolin Emcke, das sich mit dem Leben in und Befreien aus engen, tradierten Strukturen beschäftigt. Am häufigsten gelesen hat der große Christa Wolf-Fan aber »Kein Ort, nirgends«, ein Buch, das sie schon durch ihr halbes Leben begleitet und von dem ich finde, dass es der mit Abstand gelungenste Buchtitel der deutschen Literaturgeschichte ist.

Die Liebeslyrik-Liebhaberin vom Verlagshaus Berlin freut sich schon sehr auf den Beginn von »ocelot2«. »Die drei sind einfach toll«, schwärmt Schmidt. In der Vergangenheit haben sie schon einiges zusammen ausgeheckt. Gespannt ist sie auf das neue Literaturkritik-Format, weil jeder von ihnen anders liest und wahrnimmt, das zeigten die bereits im Vorfeld ausgebrochenen, wilden Diskussionen über die vier Titel der Premierenveranstaltung. Auf dem Podium müssen diese dann gebündelt, distanziert begründet und im Austausch mit dem Publikum verhandelt werden. Schmidt möchte zeigen, dass es einfach unterschiedliche Zugänge zur Literatur gibt, und dort unser internalisiertes Daumen-hoch/Daumen-runter-Denksystem keinen Bestand hat.

Lektorin Andrea Schmidt in der Mitte, zusammen mit zwei am Projekt involvierten Studentinnen, Anja Riedel und mir © Anja Riedel

 

Literaturkritik neu gedacht?!

Ein Hoch auf die Literaturkritik, zumindest wenn sie in Form einer gut geführten Diskussion stattfindet, der an der Leselust, am besseren Verständnis für Bücher und am Anknüpfen an gesellschaftlichen Debatten gelegen ist.

»ocelot2« beschäftigt sich mit wichtigen Fragen der Relevanz, Aktualität und Form von Literaturkritik, möchte sie feiern, leben, erneuern und verbessern. Einen Versuch ist es wert, denke ich, und der Versuch ist nötig. Ich werde das neue Format von ocelot, weiter verfolgen und euch berichten.

Seid ihr dabei?

 

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ocelot2 – Die Diskussion

Die BuchhändlerInnen Maria-Christina Piwowarski und Ludwig Lohmann (ocelot,) sprechen in der Premierensendung von 
»ocelot2« mit Andrea Schmidt (Verlagshaus Berlin) und Alexander Weidel (Secession Verlag für Literatur)
über Nino Haratischwili »Die Katze und der General« (Frankfurter Verlagsanstalt), Annie Ernaux 
»Erinnerung eines Mädchens« (Suhrkamp), Paul Beatty »Der Verräter« (Luchterhand) und Natasha Stagg 
»Erhebungen« (Edition Nautilus).

Wo? Buchhandlung ocelot, Brunnenstraße 181 (Berlin Mitte)

Wann? Donnerstag, 15.11.2018, ab 20:00 Uhr

Der Eintritt ist frei. 
Ãœbertragen wird live auf instagram.com/ocelotberlin.
Mehr Infos auf facebook!

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