Literatur
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Mit Tommy Orange »Dort dort«, wo die Indianer überlebt haben

»Die Menschen sind in der Geschichte gefangen, und die Geschichte in ihnen.« James Baldwin (157)

In »Dort dort«, dem vielgelobten Debüt von Tommy Orange, kommt eine Vielzahl von Protagonist*innen zu Wort, die alle ein anderes Verhältnis zu ihren Native American-Wurzeln haben, alle jedoch mit dieser Identität hadern.

»Und alles, was wir schon gesehen haben, ist voll von Klischees, die überhaupt erst der Grund dafür sind, dass sich keiner für die Geschichte der Natives interessiert, sie ist zu traurig, so traurig, dass sie nicht mal mehr unterhaltsam sein kann, aber vor allem sieht sie erbärmlich aus, wie sie bisher dargestellt wurde…« (46)

Dagegen geht Orange, selbst Sohn einer weißen Mutter und eines Vaters vom Stamm der Cheyenne und Arapaho, in seinem Roman vor. Seine Geschichte meidet Klischees, indem er sie aufspaltet in zwölf sehr heterogene Stimmen. Sie ist nicht zu traurig und erstrecht nicht erbärmlich, sondern kraftvoll, klug, spannend und beklemmend. Es wird ein intensiver Kurzeinblick in zwölf vielfältige Leben gewährt, jedoch dominiert ein düsterer Grundton, der die Geschichten von Gewalt, Alkoholismus, Drogengeschäften und abwesenden Vätern untermalt. Erzählt wird von Verlorenheit, gesellschaftlichem Außenseitertum und Armut, von schnödem Alltagsrassismus und den Bürden einer grausigen Historie, die den amerikanischen Gründungsmythos zerschellen lässt.

Alle Zwölf treibt es schließlich zum Powwow, einem traditionellen indigenen Fest, das das Native Indianersein feiert, identitäre Versöhnung stiften und eine Gemeinschaft, die auf dem ganzen Kontinent verstreut lebt, zusammenführen soll –, doch dieses Angebot des Friedens, der Vereinigung und Heilung endet in einer Katastrophe.

»Wir alle hatten unsere Gründe, um zum Big Oakland Powwow zu kommen. Die chaotisch baumelnden Strähnen unserer Leben wurden zu einem Zopf geflochten und an all das gebunden, was uns hierhergebracht hat.« (137)

 

Pow und Wow und Bumm Bumm

Eine Art Wurzellosigkeit ist den Leben der Natives gemein. Seit der europäischen Invasion ereigneten sich unzählige Massaker, eine »fünfhundertjährige Völkermordkampagne«, die viele Stämme ausgerottet und die überlebenden Natives traumatisiert hat und kaum je geschichtlich aufgearbeitet wurde. Das Land ihrer Ahnen wurde von Weißen übernommen und zur Unkenntlichkeit verändert. So stellt die Schriftstellerin Gertrude Stein 1937 über ihre Heimat Oklahoma fest: »There is no there there.«

»Das Zitat ist Dene wichtig. Das Dort dort. Bis auf dieses Zitat hat er nichts von Gertrude Stein gelesen. Aber für die Ureinwohner dieses Landes, des ganzen amerikanischen Doppelkontinents, ist das alles neu bebautes, vergrabenes Ahnenland, Glas und Beton und Draht und Stahl, unwiederbringliche, bedeckte Erinnerung. Es gibt dort kein Dort.« (44)

Sie alle suchen nach einem Platz, nach Zugehörigkeit und Normalität, nach einer Vergangenheit und dem Warum. Dort ist Tony mit ›dem Drom‹, einem fetalen Alkoholsyndrom, das ihm seine Mutter noch während der Schwangerschaft mitgegeben hat, und das sein Gesicht entstellt und seine geistige Entwicklung einschränkt. Er ist es gewohnt, aus den verschiedensten Gründen angestarrt zu werden: »Ich bin schlau auf die Art, dass ich weiß, was die Leute denken. Was sie wirklich meinen, wenn sie sagen, dass sie etwas anderes meinen. Das Drom hat mir beigebracht, am ersten Blick der Leute vorbeizuschauen, auf den zweiten zu warten, den direkt danach.« (23). Und dort ist Dene, der in einem Dokumentarfilm Geschichten von Natives sammelt. Die Halbgeschwister Jacquie und Opal waren in den Siebzigern als Teenager dabei, als Natives die Gefängnisinsel Alcatraz besetzten, um für ihre Rechte zu protestieren. Und dort ist Blue, die vor ihrem gewalttätigen Freund davonläuft, außerdem der internetsüchtige Edwin, der im Organisationskomitee des Powwow aushilft, in der Hoffnung dort seinen verschollenen indianischen Vater kennenzulernen. Es gibt Orvil, der mit seinen Brüdern bei seiner Großtante aufwächst, da ihre Mutter tot und ihre Großmutter Alkoholikerin ist, und kaum etwas über sein kulturelles Erbe weiß, aber heimlich zu Powwow-YouTube-Videos tanzt. Und den Trommler Thomas, der besonders unter seiner gemischten Herkunft leidet: »Du stammst von einem Volk ab, das nahm und nahm und nahm. Und von einem Volk, das genommen wurde. Du warst beides und keins.« Und dann gibt es dort noch eine ganze Reihe von Jungen, die mit dem Drogendealer Octavio unter einer Decke stecken oder ihm auf die ein oder andere Weise etwas schuldig sind.

 

 

Was wurde aus den Indianern, die Kolumbus aus einem Irrtum heraus so taufte?

»Da sind die Logos und die Maskottchen. Der Abklatsch eines Abklatsches eines Bildes eines Indianers in einem Schulbuch. Von den oberen Spitzen Kanadas und Alaskas bis hinab zum äußersten Ende Südamerikas wurden Indianer entfernt und auf ein gefiedertes Bild reduziert. Unsere Köpfe prangen auf Flaggen, Trikots und Münzen. Unsere Köpfe waren, natürlich bevor wir als Volk auch nur wählen konnten, erst auf dem Penny und dann auf dem Buffalo Nickel – Münzen, die wie die Wahrheit über historische Ereignisse auf der ganzen Welt und wie das Blut all der Gemetzel heute nicht mehr im Umlauf sind.« (13)

Dass der gefiederte Indianer zum beliebten Symbol und verklärten Figur der amerikanischen Geschichtsschreibung und Popkultur missbraucht und einverleibt wurde, ist besonders zynisch in Anbetracht der blutigen Realität, der vertriebenen, vernichteten und verschwiegenen Natives. Ein Genozid, der aber nicht zu ihrem Untergang führte. Die indigene Kultur lebt in ihren modernen Nachfolgern weiter, ihre Geschichten werden wieder und neu erzählt. Die Native Americans heute haben nichts mit denen in den Filmen der Weißen zu tun. Sie leben in Städten oder Reservaten, die meisten wissen nur wenig über ihr Erbe und alte Traditionen. »Die Beschäftigung mit deinem Erbe ist ein Privileg. Ein Privileg, das wir nicht haben.« Zu groß sind die Wunden, zu schmerzlich das Erinnern. Ohne kulturelle Basis und doch zermürbenden Diskriminierungen ausgesetzt, sind die Nachkommen der Natives doppelt im Nachteil und sitzen zwischen den sprichwörtlichen Stühlen.

»Uns in Städte zu bringen sollte der letzte Schritt unserer Assimilierung sein, unsere Absorption, Auslöschung, die Vollendung einer fünfhundertjährigen Völkermordkampagne. Aber die Stadt erschuf uns neu, wir machten sie uns zu eigen. Wir verloren uns nicht im Gewirr hoher Gebäude, im Strom anonymer Massen, im pausenlosen Verkehrslärm. Wir fanden einander, gründeten Indian Center, holten unsere Familien und Powwows nach, unsere Tänze, unsere Lieder, unsere Perlenarbeiten.« (15)

Das Powwow wird zum besonderen Ort der Begegnung einer zerrütteten, komplexen Familie, der sonst ihr »Dort« fehlt. Die auf eine verlorene Heimat blickt, die von der Geschichte überlagert wurde.

 

Fazit: »Blut macht Dreck, wenn es rauskommt.« (138)

»Dort dort« kann mit einer gelungenen Komposition aufwarten, rhythmisch wechselt die anfangs episodische Erzählung zwischen den Figuren und verflechtet seine Stränge immer stärker. Mit den Zusammenhängen nimmt auch das Erzähltempo zu, bis sich der Plot drastisch zuspitzt. Den meisten der zwölf Protagonist*innen kommt man erstaunlich schnell sehr nahe und entwickelt bis zu einem gewissen Grad sogar Verständnis für Gewalttäter und Suchtkranke.

»Alle werden glauben, es ging ums Geld. Aber wer will verdammt noch mal kein Geld? Wichtig ist, warum man Geld braucht, wie man es kriegt und was man dann damit macht. Geld allein hat noch nie wem was getan.« (25)

Über den Takt der mächtigen Trommeln und hitzigen Tänze beim Powwow legen sich schließlich Schüsse: Tommy Orange wählt ein hysterisch-eskalatives Ende und zwingt seine Leserschaft, den Tod einer ganzen Reihe von Schussopfern mitzuerleben. Und das auf eine Weise, die sich so echt anfühlt, als wenn der Autor schon auf mehrere Arten gestorben wäre und aus erster Hand schildern könne. Dieses unerbittliche Finale haut einen um und entlässt seine Leserschaft in eine grausige Stille.

Wie Dene mit seiner Kamera die Geschichten der Natives festhalten will, ist auch Tommy Orange bemüht, sein Nebeneinander von Stimmen einem rassistischen Stereotyp entgegenzustellen. Das Wir, die Einheit der Natives zerfällt in zwölf sehr unterschiedliche Stimmen, denen nur ihr gebrochener Lebenslauf gemein ist. Ihr Nativesein ist allgegenwärtig und doch anzweifelbar, nicht greifbar und manchmal eine Entscheidung, auf jeden Fall jedoch eine schwierige Ausgangslage, die auch die nächsten Generationen noch prägt: zerbrochene Familien, verschüttete Geschichten, Suchtproblematiken, Unwissen über die identitätsstiftende Abstammung. Den Natives dort dort ist auf der Suche nach Orientierung und Zugehörigkeit keine Normalität vergönnt. Denn eigentlich hallt bis heute die ungeheure Gewalt, die den Ureinwohnern Amerikas angetan wurde, als »unversorgte Wunde« in den einzelnen Leben nach. »Die verirrten Kugeln und Konsequenzen schlagen auch heute noch in unsere arglosen Körper ein.«

Tommy Oranges Debüt ist ein ungewöhnliches Buch, schlagkräftig und aufrüttelnd, mit einem reichhaltigen Personal, deren Schicksale sich untrennbar verschmelzen. Spannend und rasant erzählt, tiefgreifend, rau, wuchtig und wütend. Dem kann sich niemand entziehen.

Check your privilege!

»Wenn du das Glück hattest, in eine Familie hineingeboren zu werden, die direkt an Völkermord und/oder Sklaverei verdient hat, glaubst du vielleicht, je weniger du darüber weißt, desto mehr von deiner Unschuld kannst du dir bewahren, was ein guter Grund ist, sich nicht zu informieren, nicht zu tief zu bohren, auf leisen Sohlen um den schlafenden Tiger zu schleichen. Nimm nur deinen Nachnamen. Verfolge ihn zurück, und vielleicht findest du heraus, dass euer Weg mit Gold gepflastert war oder mit Fallen.« (140)

 

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»Dort dort« von Tommy Orange, selbst Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Hannes Meyer, umfasst 288 Seiten, erschien am 19.08.2019 bei Hanser Berlin und kostet fest gebunden 22,00 €.

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