Anderswo
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Rückblick zum 19. ilb – 11. bis 21.09.19

Ich war in diesem Spätsommer auf verschiedenen Veranstaltungen des internationalen Literaturfestivals in Berlin unterwegs und möchte euch gern einige Einblicke in die Momente gewähren, die mir am meisten in Erinnerung bleiben werden.

Ocean Vuong »Auf Erden sind wir kurz grandios«

Mit seinem Prosa-Debüt hat der in Vietnam geborene US-amerikanische Lyriker Ocean Vuong für Furore gesorgt. Sehr einfühlsam und poetisch, ja geradezu gattungsübergreifend, schreibt Vuong über Gewalt, Migration und eine erste Liebe, die alles verändert.

Seine Lesung auf dem ilb ist außergewöhnlich gut besucht. Wie ein Popstar wird der recht kleingewachsene Literat von zierlicher Gestalt gefeiert. Sein überraschend hohes, wackeliges Stimmchen steht gegen seine enorm starken Statements mit Marmor schwerem Pathos. Der lyrische Prosaist weiß sein Publikum in den Bann zu ziehen und lässt eine zu Tränen gerührte Menge zurück.

Viel wird über Vuongs biografischen Hintergrund gesprochen. Aus einer Arbeiter- und Migrantenfamilie ist er mit zwei Jahren nach Amerika gekommen. Von seiner zwar nur gering gebildeten Familie von Reisbauern habe er die Kunst des Geschichtenerzählens erlernt, erzählt er. Der Körper sei eine begrenzte Bibliothek. Wenn man seine Heimat verlässt, lässt sich nur eine limitierte Anzahl an Geschichten und Erinnerungen mitnehmen, die im Weitererzählen zu vielfach überarbeiteten Folkloren werden. Seine Familie interessiere sich wenig für seinen literarischen Erfolg, witzelt Vuong. Seine Lebenswirklichkeit habe sich einfach zu weit von ihrer entfernt. Allein ein Buch zu lesen sei eigentlich ein nicht zu unterschätzendes Privileg, an dem ein Großteil der Arbeiterklasse, deren Interesse in erster Linie der nächsten Miete und offenen Rechnungen gelte, nicht teilnehme.

Auch über das Schreiben hat der junge Autor einiges zu sagen. Ein Buch sei für ihn ein Ort der Begegnung und Kommunikation, es kreiere eine Art fiktiver Piazza. Für seinen Roman habe er sich bewusst gegen die in westlichen Kulturen übliche drei- bzw. fünf-Akt-Struktur entschieden, die in seinen Augen eine falsche Freiheit verkaufe. Für Vuong steht die klassische Dreiecksdramaturgie für ein kapitalistisches Versprechen von Höhepunkt und Erlösung, dessen er sich nicht bedienen wollte. Stattdessen nutze er eine japanische vier-Punkt-Dramaturgie, die zum Beispiel in den Animationsfilmen aus dem Hause Studio Ghibli Anwendung findet und nicht zwangsläufig ein Problem als Motor der Geschichte benötigt.

Den auffälligen Gebrauch von Tier-Motiven und -Metaphern in »Auf Erden sind wir kurz grandios« führt der Autor auf den von ihm praktizierten Buddhismus zurück, auf die Philosophie, dass alles Leben gleichwertig sei. Was ihm außerdem sehr wichtig war, sei keine Geschichte von Gut und Böse zu erzählen. Der Vietnamkrieg ist Ausgangspunkt seines Romans und im Krieg gebe es keine Sieger, lediglich Gewalt, die sich immer weiter fortsetzt und potenziert. An dieser Stelle stellt Ocean Vuong klar, dass er nicht aus Wut schreibe, sondern aus Anteilnahme, was ihn grundlegend von den französischen Autoren unterscheidet, die ich bei einer Podiumsdiskussion des ilb gesehen habe.

Vuong wendet sich auch gegen das typische Motiv der Freiheit in amerikanischen Geschichten, denn der nationale Gründungsmythos der Freiheit wurde auf Sklaverei und den Genozid der Ureinwohner gebaut. Für sein Buch sei er stattdessen den Geschichten von Marginalisierten gefolgt, so hatte z. B. Kafkas Brief an seinen Vater einen entscheidenden Einfluss. Sein Roman ist als Brief an die Mutter gerahmt, ein Akt der Unmöglichkeit, da diese nicht lesen kann. Die Frage liegt nahe: Ist Sprache genug?

Auf seinen kreativen, verspielten, poetischen Umgang mit der englischen Sprache angesprochen, erzählt Ocean Vuong vom Vietnamesischen. Von großen Bedeutungsunterschieden bei leichten Aussprachevariationen, von denen er gelernt habe, genau hinzuhören, auch auf den Atem zwischen den Silben. Ein sensibles Sprachbewusstsein, dass er auf andere Sprachen überträgt. Sehr berührend schildert Vuong, wie er im Zuge dessen sein Vietnamesisch verbessert, akademisiert hat, nur um festzustellen, dass ihn das noch viel weiter von seiner Familie entfernt. Die Muttersprache sei das einzige, das ihn noch mit ihnen und ihrer Welt verbinde und so habe sich der Literat entschlossen, auf ihrem Sprachlevel zu bleiben, dem Level eines Mittelstuflers.

Hier geht es zu meiner Buchrezension.

 

André Aciman »Fünf Lieben lang«

Der in Ägypten geborene Weltbürger André Aciman hat seit dem Welterfolg des großartig verfilmten Coming-of-Age-Romans »Call me by your name« eine große Fangemeinde. Sein neuer Roman »Fünf Lieben lang« ist eine Feier der Begierde. Lust und Leidenschaft, unabhängig von Alter oder geschlechtlicher Identität, die Unbeständigkeit und Illoyalität von Verlangen und die Rätselhaftigkeit des eigenen Ichs betrachtet Aciman hier episodisch und hält die Spannung der unerfüllten Sinnlichkeit für den Leser bis zum Schluss aufrecht.

Der durch verschiedene ethnische Wurzeln, kulturelle Traditionen und multilingual geprägte Aciman versteht sich als heimatlosen New Yorker, wobei er grundsätzlich seine Autor-Identität von den anderen Rollen der Privatperson André Aciman abspaltet.

Ausgangssituation für »Fünf Lieben lang« ist ein Zwölfjähriger, der absolut nichts über Sex weiß und nun zum ersten Mal begehrt, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. So erzählt Aciman episodenartig verschiedene Lust- und Liebesgeschichten, ohne dabei je einem machohaften Ton nachzugeben, sondern im Gegenteil über die Maßen zärtlich, sensibel und verunsichert. Zum Thema Leidenschaft sagt er, dass es für ihn keinen Unterschied mache, über homo- oder heterosexuelle Liebe zu schreiben. Unterm Strich gehe es immer um Körper, Haut und Anziehung, die Begierde untrennbar mit der Scham verbunden. Grundsätzlich benutze er das Wort Liebe ungern, da es mehr Türen schließe als zu öffnen, was seinem neuen Roman deutlich anzumerken ist. Literarisch sei er nicht im Geringsten an gutbürgerlicher Häuslichkeit interessiert, lieber schreibe er über erotische Eskapaden, Schwierigkeiten, Undefinierbares, Kompliziertes, über ungestilltes Verlangen, denn Intimität sei für ihn Liebe, die gleichzeitig Selbstliebe ermögliche.

Sein Protagonist Paolo krankt daran, dass er immer etwas anderes will als er gerade hat, ein sprunghafter, illoyaler Charakter, von dem Aciman behauptet, dass die meisten Menschen so seien, sich ihre Begierden in der Regel aber verböten. Sein Roman streife in seinem Interesse an Obsession und Leidenschaft viele Themen wie die Fluidität von Identitäten, das Bewusstsein der Temporarität von allem, den Wert von Erinnerungen, auf die man im Alter zurückgreifen kann, und Ironie und Melancholie, die für ihn zwei Seiten einer Medaille und die Pole seiner Geschichten bilden.

Hier geht es zu meiner Buchrezension.

 

Didier Eribon, Édouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie im Gespräch über die politische Situation in Frankreich unter Macron

Die drei Franzosen gehören zu einem Kreis Pariser Intellektueller, die für die Rechte Homosexueller und gegen den neuen Rechtsruck und Fremdenfeindlichkeit in Frankreich eintreten. In dieser Podiumsdiskussion beschreiben sie Macrons Politik als autoritären, aggressiven Liberalismus und kritisieren ihn scharf für seine Sozial- und Flüchtlingspolitik. Eribon sieht in Macron einen Verrückten, der sich als Erlöser und Retter der EU inszeniere und von den Medien viel zu positiv dargestellt werde.

Louis sieht in Macron ein bourgeoises Produkt der Eliteschulen, der eine Politik für die höheren Schichten mache und Menschen – Demonstranten, Kranke, Flüchtlinge – mutwillig sterben lasse. Mit Bezugnahme auf sein aktuelles Buch »Wer hat meinen Vater umgebracht« (siehe meine Buchrezension hier) erklärt Louis, dass politische Entscheidungen von einer kleinen Elite beschlossen würden, ihre Auswirkungen aber für die unteren Klassen viel stärker spürbar seien. Was man häufig aus den Augen verliere, sei, dass die Politik für marginalisierte Bevölkerungsgruppen eine Frage von Leben oder Sterben darstelle. Sozialer Druck erzeuge Aggressivität und die Gewalt setze sich von der öffentlichen in die private Sphäre fort. Die Drei stellen eine allgemeine Präkarisierung breiter Gesellschaftsschichten fest, die es schwer mache, eine politische Alternative ins Feld zu führen. Wenn Menschen Angst haben, könnten sie sich keine Zukunft vorstellen.

Der Philosoph, Soziologe und Herausgeber Geoffroy de Lagasnerie kritisiert in erster Linie die mediale Berichterstattung. Dadurch, dass der neuen Rechten zu viel Aufmerksamkeit zu Teil werde, werde sie stärker gemacht und neben Marine Le Pen erscheine Macron als regelrechte Lichtgestalt. Auch hier sei die Umdeutung von Schwachen und Starken zu beobachten, Marginalisierte, die angeblich die Bürgerlichen gefährden würden – eine Epistemologie, die schon immer den Rechten zu Eigen war und unweigerlich zum Faschismus führe. Viele Menschen seien der klassischen Parteienpolitik überdrüssig und stellten nun alles in Frage. Als Lösungsansatz sieht er Intellektuelle in der Pflicht, die auch politisch aktiv werden müssen – ein logischer Kreisschluss, da sie die Dinge, die sie in der Kunst auseinandernehmen, in der Politik wieder zusammenführen könnten. Überhaupt müsse ein linker Habitus gestärkt, die politische Linke grundsätzlich neu erfunden werden.

Wirklich verblüffend wird diese Podiumsdiskussion in dem Moment, als sie für das Publikum geöffnet wird. Ein Festivalbesucher merkt an, dass er grundsätzlich mit der Stoßrichtung der Podiumsgäste einverstanden sei, sich aber mehr Zahlen, Fakten, Debatte und weniger Anti-Macron-Polemik gewünscht hätte, woraufhin alle drei Redner mit Schärfe klar machen, dass sie nicht an einem Gespräch mit Macron-Unterstützern interessiert seien, da sich die Unterdrückten nicht länger verteidigen oder rechtfertigen müssen sollen. Eribon geht sogar soweit zu behaupten, dass unsere deutsche Wertschätzung der Kultur des Dialogs eine starke Opposition verhindert und die AfD erst ermöglicht habe. Auf den Zuruf aus dem Publikum hin, wenn man nicht mehr reden wolle, könne man ja gleich zu den Waffen greifen, scheint die Stimmung endgültig zu kippen. Auf einen falschen Dialog seien die französischen Intellektuellen nicht aus, das Aufmerksamkeitsmonopol der politisch Mächtigen dürfe nicht weiter gestärkt werden. Diese Aufkündigung des Dialogs wirkt auf mich allerdings antidemokratisch und scheint mir genau der von Édouard Louis angesprochenen Gewaltspirale zuzuspielen. Ich habe an diesem Abend eben jener Wut ins Gesicht geschaut, die Ocean Vuong als Motivation zum Schreiben ablehnt.

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