Literatur
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»Flexen. Flâneusen* schreiben Städte«

»Das Wort Flâneuserie gibt es nicht, in keinem Wörterbuch. Mich aber gibt es.«

Diese Anthologie, herausgegeben von Özlem Özgül Dündar, Ronya Othmann, Mia Göhring und Lea Sauer, erzählt davon, was Frauen* erleben, wenn sie in Städten unterwegs sind. Oder warum sie es nicht sind. Neben denen der Herausgeberinnen versammelt der Band Beiträge von 26 weiteren Autor*innen, darunter etablierte Namen wie Bettina Wilpert, Svenja Gräfen und Anke Stelling.

Flexen, das klingt nach Heimwerkern und schwerem Handwerk. Das klingt hart, nach Schweiß und brechendem Widerstand und das klingt vor allem männlich. Nun hat das Wort Flexen neben der landläufig bekanntesten noch eine Reihe weiterer Bedeutungen: biegen, Sex haben, das Variieren der Geschwindigkeit beim Rap, die Muskeln anspannen, seine Muskeln zur Schau stellen und die Flâneuserie. Und damit sind wir schon mittendrin.

»Flexen« hat es sich zur Aufgabe gemacht, der starken literarischen Tradition des männlichen Flaneurs aus westlicher, weiß-männlicher Feder etwas entgegenzusetzen.

Flexen, das ist aktiv. Ein neues Wort, ein nützliches.

»Braucht es dafür ein neues Wort? Muss es wirklich das Flexen sein? Ja, muss es. Denn das, was ich mache, ist nicht einfach nur ein nettes Herumspazieren, ein Lustwandeln, eine Selbstverständlichkeit. Ich bin noch kein Teil einer Tradition, es gibt von mir noch kein Bild mit Spazierstock und Zylinder auf den großen Boulevards, keine Literaturgeschichte.«

»An vielen Fassaden siehst du nur noch den Schimmel, diese Stadt wurde seit Jahrhunderten nicht mehr gelüftet.«

Hier werden 30 verschiedene Texte versammelt mit 30 verschiedenen Perspektiven auf Städte, alle geschrieben und erlebt von Frauen*, PoC oder queeren Menschen. Wir streifen unter anderem durch Berlin, Dresden, Dublin, Sarajevo, Mumbai, Istanbul, Beirut und Jakarta, erleben eine Straßen-Demonstration, belästigende Männer, das öffentliche Herumhängen als politischen Aktivismus, einen nicht barrierefreien Spaziergang mit Kinderwagen, wie und wo Geschichte sich in eine Stadt einschreibt und wie wenig Straßen nach Frauen benannt sind. Wir begleiten verängstigte Frauen*, aufmüpfige, traumatisierte, gewalttätige, wütende, überforderte, orientierungslose, humorvolle, flirtende und gierige. Worum es dabei jedes Mal geht: die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen, urbanen Raum zu stärken: Take Back the City!

Beim Flexen wird der Spaziergang zum Statement und Protest, zur subversiven Methode der städtischen Eroberung – hier vereinen sich Texte, die tendenziell mehr die Flâneusen* als die Städte in den Blick nehmen. Genauso wie der Gang durch die Stadt, ist das Schreiben über die Flâneuserie ein Akt der Befreiung und eine Kritik.

»Wenn ich mich in Städten bewege, heißt das: Aufpassen. Oder es heißt: Gesehen werden. Oder: Vollkommen unsichtbar sein. In jedem Fall wurde meine Stimme bis heute zu selten angehört und hat zu selten die Seiten von Büchern gefüllt. Flexen heißt für mich, mich dort zu bewegen, wo ich nicht vorgesehen bin und etwas tun zu wollen, was für mich erst einmal als etwas Ungewöhnliches gilt. Deswegen flexe ich.«

»Gehe fluchtartig geradeaus und versuche, meine Gesichtsmuskeln zu entspannen.«

Für Frauen und queere Menschen, für Marginalisierte und Migranten bedeutet das Betreten des öffentlichen Raumes, sich sichtbar und angreifbar zu machen, Street Harrassment: »Heute lieber Hose. Heute lieber unsichtbar. Heute lieber unbemerkt.« Was dabei aber allen Flâneusen zu Grunde liegt, ist das Trotzdem, die Gewissheit, dass man gegen die eigene Angst vorgehen muss, dass mehr weibliche Präsenz zur Normalität werden, dass das Flexen Städte und Menschen verändern kann.

Bezeichnend ist die Vielfalt der Stimmen und Formen in dieser Anthologie: eine Bunte Mischung aus Erzählungen, Gedichten und journalistischen Essays, die formal und inhaltlich sehr divers ausfallen. Es liegt in der Sache an sich, dass auch die Qualität der Texte eine Bannbreite hat, unterm Strich aber präsentiert sich hier eine Sammlung sehr kurzer, konzentrierter, sehr intensiver Texte. Gelungene, starke, nachdenklich stimmende und unterhaltsame Beiträge, ein kurzweiliger, vielfältiger Genuss und dazu ein Akt des Aufstands.

 

»Das Haus spuckt mich in den Vorhof. Erster Höllenkreis.«

Der öffentliche urbane Raum fällt sehr maskulin aus, eine Demonstration männlicher Machtsymbole, von Männern für Männer gemacht, die Ausstattung an einen Durchschnittsmann angepasst. Es ist keine Sphäre, die für Frauen vorgesehen ist.

»Die Architektur der meisten US-amerikanischen Städte war sexistisch, weil sie für bestimmte Rollenbilder und Aufgabenteilungen geplant wurde. Ist man erst divorced, old oder disabled – Gott behüte alles drei – passt man nicht mehr in die Stadt. Die Stadt wurde nämlich von Menschen gebaut, die diese Probleme nicht haben. (…) Wenn Mütter Städte entwickeln würden, gäbe es überall Rampen für Kinderwagen, breite Bürgersteige, autofreie Zonen. Es gäbe öffentliche Gärten, Parks und Wälder. Kinder wären überall. Wenn Rentner Städte entwickeln würden, gäbe es Bänke. Und wenn man einsähe, dass Obdachlose auch Menschen sind: Bänke ohne Sitztrenner.«

Schon kleinen Mädchen bringt man bei: draußen ist es gefährlich alleine, bleib lieber zu Hause, es gehört sich nicht, treib dich nicht im Dunklen rum. »Flanieren heißt, sich um nichts zu kümmern. Wer sich erlauben kann zu flanieren, kann sich erlauben, sorglos zu sein.«

Das Flexen ist dagegen spielerische Rebellion. Die Lust am Stören. Durch das Schreiben über ihre Streifzüge, ihren weiblichen Blick auf die Stadt, schreiben die Flâneusen auch ihre Stadt neu.

»Jetzt geht’s vorwärts. Jetzt fangen wir an, jetzt brechen wir auf, jetzt legen wir los, jetzt jagen wir los, jetzt greifen wir an, jetzt greifen wir zu, jetzt drücken wir zu, jetzt treten wir zu, jetzt treten wir vor, jetzt treten wir auf.«

Der Geschichtenband schärft schließlich den eigenen Blick für seine*ihre Stadt und die Menschen auf den Straßen. Er ist eine Ermunterung, sich nicht länger »einzukokonieren«, sich raus zu wagen. Erlauft euch eure Stadt! Bist du schon Flâneuse?

 

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Die Anthologie »Flexen. Flâneusen* schreiben Städte«, herausgegeben von Özlem Özgül Dündar, Ronya Othmann, Mia Göhring und Lea Sauer, umfasst 272 Seiten und erschien 2019 im Verbrecher Verlag. Die Broschur kostet 18,00 €.

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