Literatur
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Mit Olivia Wenzel »1000 Serpentinen Angst« durchqueren

»Es wäre vielleicht das Beste gewesen, ich hätte in dem Automaten Unterschlupf gesucht, gleich als ich den Bahnsteig betrat. Es wäre vielleicht das Beste gewesen, ich wäre sofort in diesen Automaten aus Blech eingezogen und hätte darin für ein paar Tage gewohnt. (…) Ich hätte durch die Scheibe nach draußen schauen und die Menschen auf dem Bahnsteig beobachten können. Ich hätte Grimassen schneiden und pathetische Lieder singen, hätte die Gespräche der Leute live synchronisieren können. Den Menschen, dir zu mir gekommen, wären, um sich einen Snack zu holen, hätte ich eindringliche Fragen stellen können. Oder Antworten geben. Ich hätte mich verlieben können. Ich hätte meine bisherigen Berufe, mein bisheriges Leben einfach so vergessen können.« (11)

Es ist die Urszene ihrer Angst, die plötzlich alles zu beherrschen scheint. Der Bahnsteig, an dem sie sich immer wieder stehen sieht, ganz allein zwischen Fremden. Derselbe Bahnsteig, an dem ihr Zwillingsbruder sich mit 17 umgebracht hat. Und sie sich selbst überlassen hat, in einem Leben, das wirklich alles andere als einfach ist. Wer würde sich da nicht im Snackautomaten zwischen Kokosschokoriegel und Schweinesalami im Teigmantel verstecken wollen?

Das Ich, das in »1000 Serpentinen Angst« mit unnachgiebigen Fragen malträtiert wird und Antwort stehen muss, ist eine Woman of Colour Mitte Dreißig. Und das ist auch schon das Problem. Die Mutter war rebellische Punkerin in der DDR, das Verhältnis zu ihr ist denkbar schlecht. Der angolanische Vater hat sich schon lange aus dem Staub gemacht. Die linientreue Oma, die stramm sozialistischer Überzeugung ein angesehenes Leben voller Privilegien in der DDR geführt hat und trotz ihrer inneren Schwierigkeiten und Scham gegenüber zwei schwarzen Enkelkindern eine liebevolle Oma und Ersatz-Mutter sein wollte, ist nun drauf und dran eine rechtspopulistische Partei zu wählen. Die Angstzustände, die die Protagonistin seit dem Tod ihres Bruders kennt und dank unzähliger Erfahrungen mit rassistischen Anfeindungen, Gewaltandrohung oder abschätzigen, unangenehmen Blicken wach gehalten werden, verschlimmern sich nun drastisch.

Therapie, Medikamente, Reisen, das kann alles nicht so recht helfen. Vielleicht liegt es auch an der allumfassenden Verunsicherung, die von der beginnenden Schwangerschaft ausgeht? Die junge Frau setzt ihre Hoffnungen in eine Aussprache mit der kaum je anwesenden Mutter, die sich anscheinend vor den Behörden in einer Hütte im Wald versteckt und nicht bereit ist, Klarheit zu stiften, was damals in der DDR geschah. Was mit dem angolanischen Vater der Zwillinge vorgefallen ist, warum sie tatsächlich von der Stasi inhaftiert wurde. Vielleicht lässt sich das alles aber auch als Chance verstehen, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen und das werdende Kind in ihrem Bauch einen Auslöser sein zu lassen für eine neue, positive, zukunftszugewandte Lebensweise. Dafür braucht sie auch nicht unbedingt den leiblichen Vater des Babys, sondern in erster Linie ihre beste Freundin und Partnerin Kim.

Das Buch ist geprägt von einer vielstimmigen, sprunghaften Erzählweise, die beim Lesen sehr präsent ist und an’s Theater denken lässt. Der Plot wird nicht kohärent und chronologisch entwickelt, sondern eröffnet sich nur punktuell und unzusammenhängend. Die verschiedenen Puzzleteile ergeben zum Schluss zwar eine kleine Geschichte, geben einen beschränkten Einblick in das Leben der Protagonistin, im Vordergrund stehen aber ihre Ansichten und Reflexionen zu Themen wie Rassismus, Feminismus, Identität und Konformität, zu Körperbildern und Scham, moderner Sexualität und Familienkonstellationen, zum Reisen, dem deutschen Selbstverständnis, der Generation Y und vielen weiteren.

 

 

»Dass die Weißen glauben, weiß zu sein, und die Schwarzen schwarz«

Erzählt wird nicht zuletzt von dem unbestimmten Gefühl der Protagonistin, einer Generation anzugehören, die mehr Privilegien genießt und weniger existenzielle Probleme kennt als alle anderen Generationen zuvor, und trotzdem »am Arsch« zu sein, weil sie in einer Zeit lebt, in der Hass und Gewalt wieder so offen ausgelebt werden, wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr. Von dem Gefühl, keinen Ort zu kennen, an dem man selbst die Norm ist. Dabei ist der Ton tiefschürfend, salopp-frech bis augenzwinkernd und nah dran an seiner Zeit voller Anglizismen, Werbeslogans und Social Media-Ausdrücken und verfällt hier und da in Nostalgie für eine 90er Jahre-Kindheit.

»Das Problem mit Klischees ist nicht, dass sie nicht stimmen.
SONDERN?
Sie stimmen ziemlich oft. Das Problem ist, dass sie immer wieder nur dieselbe, eine Perspektive beschreiben.« (42)

Es ist ein Buch mit auffallender Form, das sich dennoch dezidiert für seine Inhalte interessiert. Olivia Wenzel schafft es, gute 300 Seiten mit einer strengen Frage-Antwort-Dialogform zu füllen, die sich bis zum Schluss nicht so recht erschließt – denkbar wäre, dass es sich um die Stimme ihres verstorbenen Bruders handelt, den sie in ihren Gedanken am Leben erhält –, und ihre Leserschaft dabei kein bisschen zu langweilen oder zu überfordern. Im Gegenteil, die Bruchstücke, die man aus dem Leben der Protagonistin zu greifen kriegt, erzeugen Bilder und Emotionen, kommen witzig bei all ihrer Tragik daher, mal leichtfüßig, verspielt, mal schwermütig, tiefgründig und unterhalten ausgezeichnet. Kunstvoll legt die Autorin verschiedene Beobachtungen übereinander und lässt die zwei Dialogpartner*innen in konzentrischen Kreisen ein Leben umspielen. Ein großer Wurf!

 

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 »1000 Serpentinen Angst« von Olivia Wenzel umfasst 352 Seiten, erschien am 4. März 2020 bei S. Fischer und kostet als Hardcover 21,00 €.

 

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